Frage:

Töten Tiere niemals einen Artgenossen?

Antwort:

Innerhalb der vergangenen Jahrzehnte sind bei unseren tierischen Verwandten eine Reihe von Eigenschaften entdeckt und beschrieben worden, die dem Menschen lange Zeit zur Definition seiner Einzigartigkeit dienten: Kultur, komplexe Kommunikation, Empathie und Kooperation wurden mittlerweile bei zahlreichen Arten, etwa Delfinen und Menschenaffen, nachgewiesen. Dass Töten von Artgenossen, auf das sich der Mensch in äußerst effizienter Weise versteht, zählt allerdings nicht zu diesen Charakteristika – auch unter Tieren ist dieses Verhalten weit verbreitet und altbekannt.

Wer als Kind einmal Mäuse gehalten hat, teilt vielleicht die traurige Erfahrung: Über Nacht nimmt die Zahl der hilflosen, nackten Neugeborenen ab – die Mutter oder andere erwachsene Tiere haben den Nachwuchs gefressen. Ein Grund für dieses Verhalten ist oftmals Stress aufgrund zu enger Haltungsbedingungen. Doch Kannibalismus tritt bei zahlreichen Arten auch unter natürlichen Bedingungen auf. So zählen bei Fischen, Amphibien und Reptilien die eigenen Verwandten vielfach zum alltäglichen Nahrungsspektrum. Einige Pionier-Fischarten können auf diese Weise in temporären oder neu entstandenen Gewässern überleben, in denen (zu Beginn) die eigenen Jungtiere die einzige Beute für die Erwachsenen darstellen. Auch junge Krokodile und Warane müssen sich vor ausgewachsenen Artgenossen ebenso in Acht nehmen wie vor artfremden Beutegreifern. Für männliche Gottesanbeterinnen und Spinnen ist die Partnerin häufig der letzte Anblick im Leben – nach erfolgter Paarung dienen die kleineren Männchen den Weibchen als nährstoffreiche Leckerbissen. Bei Tigerhaien fressen die Jungtiere sogar im Mutterleib manche ihrer Geschwister, so dass sie bereits als Kannibalen zur Welt kommen. Neben diesem aktiven Kannibalismus ist auch passiver Kannibalismus, also das Fressen bereits toter oder stark verletzter und bewegungsunfähiger Artgenossen, weit verbreitet. Viele aasfressende Raubtiere und Vögel, etwa Krähen, zählen zu diesen Kannibalen. Und wer bei warmer, feuchter Witterung einmal über Feldwege radelt, hat sicher bereits Nacktschnecken beobachtet, die sich an angefahrenen Artgenossen gütlich tun. Doch Tiere töten Artgenossen nicht nur, um sie zu fressen. Infantizid – das Töten von Nachkommen der eigenen Art, meist durch Männchen, die die Jungtiere anschließend nicht einmal verschlingen – ist ebenfalls weit verbreitet, beispielsweise bei Löwen, Braunbären, Pavianen, Schimpansen und zahlreichen Nagetieren. Es gibt eine Reihe von Erklärungen für dieses Verhalten, darunter Stress bei den männlichen Tätern oder Entwicklungsstörungen der getöteten Jungtiere. Die überzeugendste Erklärung ist jedoch folgende: Erwachsene Männchen stehen bei Säugetieren zumeist in Konkurrenz um Fortpflanzungsmöglichkeiten miteinander. Diese Möglichkeiten werden durch die Verfügbarkeit von Weibchen begrenzt, da diese zumeist nicht empfängnisbereit sind, solange sie Nachwuchs säugen und betreuen. Männchen, welche die Nachkommen anderer Männchen töten, machen das betroffene Weibchen daher wieder eher empfängnisbereit und können so anschließend schneller eigene Nachkommen zeugen. Auch bei Revierkämpfen, meist zwischen Männchen, wird zuweilen einer der Kontrahenten durch den anderen getötet. Bei Luchsen, Wölfen, Flusspferden, Seeadlern und zahlreichen Fischen wurde dies beispielsweise beobachtet. Die engsten Verwandten des Menschen zeigen dabei ein Verhalten, das in einigen Aspekten sogar mit der menschlichen Kriegsführung vergleichbar ist: In mehreren zentralafrikanischen Wäldern wurden Trupps von Schimpansenmännchen beobachtet, die systematisch die Grenzen ihres Streifgebietes patrouillierten und gezielt Mitglieder benachbarter Gruppen, vor allem ausgewachsene Männchen und Jungtiere, jagten und töteten. Im Kontext der Konkurrenz zwischen benachbarten Gruppen kann man so einen zahlenmäßigen Vorteil erzielen und sich letztendlich Zugang zu zusätzlichen Ressourcen verschaffen. Zusammengefasst ist das Töten von Artgenossen also ein stammesgeschichtlich altes, im Tierreich weit verbreitetes Verhalten, das unter anderem die Ernährung unter schwierigen Umweltbedingungen gewährleisten und den eigenen Fortpflanzungserfolg optimieren kann. Das massenhafte Töten fremder Artgenossen unter Einsatz von Waffen bleibt allerdings dem Menschen vorbehalten – ein zweifelhaftes Alleinstellungsmerkmal.

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