Chaos im Kopf?

Michael Monteforte vom MPIDS erhält die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft. Der Forscher untersucht die Dynamik von Neuronen-Netzwerken.

18. Juni 2012
100 Milliarden Neuronen und mindestens ebenso viele elektrische Signale pro Sekunde - dass die Vorgänge im Gehirn äußerst komplex sind, steht außer Frage. Doch sind sie auch chaotisch? Dieser Frage ist Dr. Michael Monteforte vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) in seiner Doktorarbeit nachgegangen - und kommt zu einem überraschenden Ergebnis: Das Gehirn vereint Eigenschaften chaotischer und stabiler Dynamik wie kein anderes System, das wir kennen. In seinen Arbeiten konnte der Wissenschaftler zudem erstmals zeigen, wie ein einziges verändertes Signal im neuronalen Zusammenspiel chaotisches Verhalten auslöst. Für seine Forschung hat die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) Michael Monteforte nun mit der Otto-Hahn-Medaille ausgezeichnet.

Das Verhalten chaotischer Systeme wie etwa des Wetters ist nur schwer vorhersagbar: Bereits winzige Änderungen des Ausgangszustandes können dazu führen, dass sich das System völlig verschieden entwickelt - wie der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Orkan auslösen kann. Doch trifft dies auch auf Kommunikation der Neuronen im Gehirn zu? Führt eine winzige Änderung im neuronalen Gespräch zu einem völlig anderen Verlauf?

„Bisherige Experimente und theoretische Berechnungen konnten diese Frage nicht abschließend beantworten“, erklärt Prof. Dr. Fred Wolf vom MPIDS, Doktorvater von Michael Monteforte. Während in der Vergangenheit einige Experimente auf chaotisches Verhalten hindeuteten, ergaben andere Studien ein völlig anderes Bild.

„Um eine verlässliche Aussage machen zu können, ist es besonders wichtig, in den Berechnungen die ‚Entscheidungsfindung’ des einzelnen Neurons möglichst realistisch zu berücksichtigen“, erklärt Monteforte seinen Ansatz. Denn anders als eine Glühlampe lässt sich eine Nervenzelle nicht einfach ein- und abschalten. Trifft das elektrische Signal einer Nachbarzelle am Neuron ein, erzeugt dies eine zusätzliche Spannung an der Zellwand. Doch wie innerhalb einer tausendstel Sekunde empfangene Signale und elektrische Ströme innerhalb der Zellmembran so zusammenkommen, dass das Neuron aktiv wird und seinerseits eine Botschaft weiterleitet, stellte sich als entscheidend für eine chaotische Hirndynamik heraus.

In einer ihrer Arbeiten konnten Wolf und Monteforte zum Beispiel erstmals berechnen, wie sich das Verändern eines einzelnen solchen Signals auf die Dynamik des gesamten Netzwerkes auswirkt. „Aus mathematischer Sicht ist dies der einfachste Fall – und deshalb besonders aussagekräftig“, so Monteforte. Der Grundgedanke: Die Wissenschaftler wandeln eine einzige Botschaft im vielstimmigen neuronalen Gesprächsablauf gezielt ab und berechnen den weiteren Verlauf des neuronalen Zusammenspiels im Vergleich zum unveränderten Gespräch.

„In einem stabilem System müssten die Auswirkungen überschaubar sein“, so Monteforte. Das minimal manipulierte neuronale Gespräch liefe in sehr ähnlichen Bahnen weiter wie das unveränderte. Ganz anders im Fall chaotischer Dynamik: Als Folge würde sich die gesamte Kommunikation der Neuronen dramatisch verändern, ganz so als würde ein einzelner Wortbeitrag einer Diskussion eine völlig andere Wendung geben.

In seinen Rechnungen fand Monteforte nun beide Verhaltensweisen - je nachdem wie stark das Signal verändert wird. „Das Verhalten der Neuronen-Netzwerke gleicht somit in gewissem Sinne dem eines Bobs in der Bobbahn“, erläutert der Wissenschaftler. Eine kleine Abweichung von der Ideallinie macht sich kaum bemerkbar und der Bob findet wie von selbst dorthin zurück. Größere Störungen wirken sich hingegen dramatisch aus: Der Bob gerät ins Schlingern und nimmt einen völlig anderen Weg. „Unsere bisherigen Vorstellungen von Chaos und Stabilität scheinen auf das Gehirn nicht anwendbar zu sein. Das Gehirn ist völlig anders“, so Monteforte.

Michael Monteforte hat an der Humboldt-Universität in Berlin Physik studiert. Von 2006 bis Mitte 2011 promovierte er an der Georg-August-Universität und am MPIDS in Göttingen in der Forschungsgruppe „Theoretische Neurophysik“ von Prof. Dr. Fred Wolf. Die Max-Planck-Gesellschaft zeichnet seit 1978 jedes Jahr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für herausragende wissenschaftliche Leistungen in ihrer Doktorarbeit mit der Otto-Hahn-Medaille aus. Der Preis ist mit 5000 Euro dotiert.

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