Eine Formel gegen den Stromausfall

Die Suche nach Leitungen, die Schwachpunkte im Stromnetz darstellen, wird künftig einfacher

6. April 2016

Ob in einer Stadt oder einer ganzen Region der Strom ausfällt, hängt oft nur von einzigen Leitung ab. Bricht eine wichtige Trasse weg, kann es zu einem Blackout kommen, mit möglicherweise immensem wirtschaftlichen Schaden. Die Betreiber von Stromnetzen suchen deshalb mit aufwendigen Simulationen nach Schwachpunkten im Stromnetz. Dank einer neuen Formel, die ein Team um die Physiker Marc Timme vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und Dirk Witthaut vom Forschungszentrum Jülich entwickelt hat, könnte diese Analyse des Stromnetzes künftig viel einfacher werden. Die Formel liefert im Handumdrehen verlässliche Werte darüber, ob eine bestimmte Stromleitung kritisch ist oder nicht.

Blackout. Stromausfall. Für die meisten Menschen in Europa ist das kein Thema. Denn größere Stromausfälle treten bisher nur selten auf. Eine Ausnahme war der Blackout im November 2006. Um ein Kreuzfahrtschiff von einer Werft über die Ems in die Nordsee zu steuern, schaltete der Stromversorger zur Sicherheit eine wichtige Hochspannungsleitung ab, die über den Fluss führt. Doch die Abschaltung führte zu ungeplanten Störungen im Stromnetz, die sich in wenigen Minuten zu einem Stromausfall europäischen Ausmaßes aufschaukelten. Nach und nach gingen in Teilen von Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Österreich und Spanien die Lichter aus; mancherorts für zwei Stunden.

Zwar ist seitdem in Europa kein solcher Stromausfall mehr aufgetreten. Allerdings gehen Experten davon aus, dass mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien die Belastungen im Stromnetz weiter zunehmen werden – und damit auch die Stromausfälle. Zum einem aufgrund der schwankenden Stromerzeugung durch Photovoltaik oder Windenergieanlagen; zum anderen dadurch, dass künftig große Strommengen von riesigen Windparks auf dem Meer oder sonnigen Standorten in die Ballungsräume und Industriegebiete transportiert werden müssen. Für die Energieversorger wird es daher immer wichtiger, Schwachstellen im Stromnetz aufzuspüren.

Eine einfache Formel statt aufwendiger Simulationen

Üblicherweise konzentriert man sich bei der Suche nach solchen Schwachstellen auf einzelne Abschnitte des Stromnetzes – einzelne Leitungen, die zwei Punkte miteinander verbinden, zwei Städte zum Beispiel. Bislang gilt die Faustregel, dass ein Abschnitt vor allem dann kritisch sein kann, wenn dort im Verhältnis zur geringen Größe der Leitung viel Strom fließt. Dabei gehen Fachleute von folgender Annahme aus: Je größer der Stromfluss und je stärker die Leitung belastet ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Stromausfall ereignet, wenn die Leitung einmal ausfallen sollte. Für die Suche nach Schwachstellen setzen die Energieversorger und Netzbetreiber aufwendige Simulationen ein. Damit wird durchgespielt, wie das Stromnetz reagiert, wenn eine einzelne Leitung ausfällt. Viele Tausend Simulationen sind für einen solchen Check des Stromnetzes nötig.

Einfache Faustregeln aber können trügerisch sein, wenn sie scheinbar unwichtige Effekte ausblenden. Intuitiv nimmt man an, dass eine Stromleitung umso wichtiger und unersetzlicher ist, je mehr Strom sie transportiert. Das mag oft stimmen, in entscheidenden Situationen kann diese einfache Regel aber auch falsch sein. Das haben der Physiker Marc Timme vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, sein Kollege Dirk Witthaut vom Forschungszentrum Jülich und Mitarbeiter in Göttingen in einem aktuellen Fachartikel im Magazin Physical Review Letters gezeigt. Mehr noch: Den Wissenschaftlern ist es gelungen, eine einfache Formel abzuleiten, mit der man im Handumrehen abschätzen kann, ob eine Leitung tatsächlich unersetzlich ist oder nicht – ganz ohne aufwändige und zeitraubende Simulation.

„Anhand der Verschaltungsstruktur des Stromnetzes und der aktuellen Auslastung der Leitungen können wir jetzt schon vor einem Ausfall berechnen, welche Leitungen am kritischsten sind.“ sagt Timme. „Wir konnten am Beispiel des britischen Stromnetzes illustrieren, dass eine stark belastete Leitung nicht grundsätzlich kritisch sein muss.“ Ob der Ausfall der Leitung zum Problem wird, hängt nämlich nicht nur von der aktuellen Auslastung dieser einen Leitung ab, sondern auch davon, wie das umgebende Stromnetz geknüpft und ausgelastet ist.

Ob ein Stromausfall droht, hängt von der Struktur des gesamten Netzes ab

In der Regel wird der Ausfall einer Leitung dann zum Problem, wenn der Strom keine Alternativroute findet, über die er zum Verbraucher fließen kann. Das ist ähnlich wie bei einer Kanalisation, die bei Sturzregen überläuft, weil ein Rohr verstopft ist. Eine hochbelastete Leitung ist also nicht unbedingt auch kritisch – nämlich dann nicht, wenn das Stromnetz so geknüpft ist, dass der Strom im Schadensfall einen oder sogar mehrere Umwege nehmen kann.

Die Herausforderung bei dieser Forschung besteht darin, dass sich nach dem Ausfall einer einzigen Leitung die Auslastung aller Leitungen im Stromnetz verändert, weil der Strom sich, selbstorganisiert, neue Wege bahnt. Die lokale Situation hängt damit also von der Gesamtstruktur des Netzes ab. In ihren mathematischen Berechnungen berücksichtigen die Forscher diese Netzstruktur explizit. So geht in die Formel zunächst das Wissen über das ursprüngliche Stromnetz vor dem Schadensfall ein. Dann fügen sie eine Störung in einem bestimmten Abschnitt des Netzes, der Leitung „AB“, hinzu. Als Ergebnis erhalten die Forscher dann eine Zahl, die sagt, wie gut das restliche Netz den Ausfall kompensieren kann. Ist diese Zahl zu klein, ist ein Blackout wahrscheinlich. Wie die allgemeinen mathematischen Ergebnisse und die Analyse des britischen Stromnetzes zeigte, gibt die intuitive Annahme „hochbelastet“ gleich „kritisch“ zwar einen groben Anhaltspunkt. „Sie trifft aber keineswegs immer zu, weil Netzwerkeffekte eine zentrale Rolle spielen“, sagt Timme.

Eine Rangliste der problematischen Netzabschnitte

Für gewöhnlich gehen Simulationen von einem lokalen Schadensfall aus und errechnen dann im Detail, wie das Stromnetz reagiert. Das Wissenschaftlerteam hat jetzt mit seiner Formel eine weitaus einfachere Alternative zur klassischen „Was-passiert-dann“-Simulation gefunden. In Windeseile lassen sich für x-beliebige Streckenabschnitte die Kritikalitäten errechnen, ohne Tausende von Schadensfällen in der Simulation durchspielen zu müssen. „Alles in allem können wir jetzt deutlich besser vorhersagen, ob ein Netzabschnitt kritisch ist oder nicht“, betont Martin Rohden, Koautor und früherer Mitarbeiter am Max-Planck-Institut.

Allerdings wird die Formel die Simulationen nicht überflüssig machen. In eine solche Simulation geht auch viel Erfahrungswissen ein, zudem kann man damit einen Ausfall im Stromnetz bis ins Detail nachstellen. Die neue Methode zeigt vielmehr unmissverständlich, wo die Ursachen dieser Probleme liegen und wie sie behoben werden können. Mit einem Blick erkennt man mögliche Bedrohungen. Damit liefert die Formel auch einen neuen Ansatz, um die Stromnetze der Zukunft zu optimieren. Letztlich kann so die Robustheit des gesamten Netzes gesteigert werden, um einzelne Fehler zu kompensieren. Mehr noch: „Mit unserer Formel können wir eine Rangliste erstellen, nach der detaillierte Simulationen durchgespielt werden“, sagt Timme. Für die Netzbetreiber und Energieversorger dürfte das eine enorme Arbeitserleichterung sein.

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