Kann man mit den Händen schreien?

Klar! Wer eine Gebärdensprache beherrscht, kann mit den Händen nicht nur schreien, sondern auch flüstern, Gedichte erzählen und komplexe Vorträge halten. Gebärdensprachen sind die natürlichen Muttersprachen von tauben Menschen. Kinder von tauben Eltern lernen eine Gebärdensprache also ganz normal wie andere Kinder auch eine Lautsprache von ihren Eltern lernen.


Jedes Land hat eine eigene Gebärdensprache mit einer eigenen Grammatik. In Deutschland z.B. gibt es die Deutsche Gebärdensprache, kurz DGS. Sie wird wie alle Gebärdensprachen mit den Händen, aber – ganz wichtig – auch mit dem Gesicht, dem Kopf und dem Oberkörper ausgedrückt. Natürlich ist bei der Wahrnehmung von Gebärdensprachen das Sehen wichtig. Deshalb werden Gebärdensprachen als visuelle Sprachen bezeichnet, die im dreidimensionalen Raum ausgeführt werden. Bezieht man die Dimension der Zeit mit ein, sind Gebärdensprachen sogar 4D.


Wenn jemand in einer Gebärdensprache schreit, dann gebärdet derjenige etwas größer, beim Flüstern bewegen sich die Hände schneller und kleiner. Wer eine Frage stellen möchte, muss die Augenbrauen hochheben und zwar während des ganzen Satzes. Bei der Verwendung der Gebärde für ‚dünn’ müssen die Wangen eingezogen werden, sonst ist es ungrammatisch. Es gibt also sprachspezifische Regeln für die Ausführung von Gebärdenwörtern und das Bilden von Sätzen. Gebärdensprachen sind besonders faszinierend, weil sie viele Dinge gleichzeitig ausdrücken können, wofür in der Lautsprache mehrere Worte gebraucht werden. Wer DGS lernen möchte, braucht daher eine ziemlich gute Koordinationsgabe. Um zu sagen ‚Ich gebe dir ein dünnes Buch’ werden nur zwei Gebärden benötigt. Dort stecken alle weiteren Informationen parallel mit drin. Psycho- und neurolinguistische Forschungsarbeiten zeigen, dass die Verarbeitung von visuellen Sprachen im Gehirn prinzipiell genau dort abläuft, wo auch Lautsprachen verarbeitet werden, nämlich in der linken Gehirnhälfte. Das ist spannend, weil Bilder oder Bewegungen normalerweise in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet werden. Die Ergebnisse – einschließlich der Ergebnisse unserer EEG-Studien – beweisen also, dass Gebärdensprachen vollwertige Sprachen sind, die auch vom Gehirn als solche abgespeichert und wahrgenommen werden.


Interessant ist zudem, dass es wie im Deutschen viele Dialekte gibt und man beispielsweise in Bayern ein bisschen anders gebärdet als in Niedersachsen. Vor allem für Wochentage, Monate und Farbwörter gibt es viele verschiedene Varianten. Das kann man mit lautsprachlichen Dialektwörtern wie ‚Semmel’ und ‚Brötchen’ vergleichen.
Taube Menschen haben eine facettenreiche Kultur mit eigenen Vereinen, Theatern, Kunst und Lyrik, Sportveranstaltungen etc. In Göttingen sind z.B. beim monatlichen Gebärdentreff die ‚fliegenden’ Hände zu bestaunen, wenn kreuz und quer über den Tisch hinweg geplaudert wird, um die aktuellsten Neuigkeiten auszutauschen. An der Universität werden zudem häufig wissenschaftliche Vorträge von professionellen Gebärdensprachdolmetschern/innen übersetzt, um den tauben Mitarbeitern/innen einen barrierefreien Zugang zu allen Informationen zu gewährleisten. Mit den modernen Kommunikationsmedien ist der Wissensaustausch und die Informationsvermittlung mittlerweile auch sehr direkt über Chat und Video möglich. Taube Menschen können zwar nicht hören, sie können aber häufig mehrere Sprachen: DGS, Deutsch, und oft auch noch die Amerikanische Gebärdensprache oder eine andere Gebärden- oder Schriftsprache. Sie sind daher keinesfalls ‚stumm’, sondern meist bilingual oder mehrsprachig. Eine Mitarbeiterin in unserem Institut kann beispielsweise auch die Brasilianische Gebärdensprache und die Italienische Gebärdensprache.
Wer in die Welt der Gebärden eintaucht, kann wunderbare Sprachen entdecken und wird dabei feststellen, dass auch Sprachen ohne Töne eine Melodie haben, die unter die Haut geht.

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