Warum stoßen Fische in Schwärmen nicht zusammen?

Die kollektive Fortbewegung im Schwarm tritt in den verschiedensten Lebensräumen und Größenordnungen auf – von Großtierherden bis hin zu Bakterien. Wir können sie sogar an unbelebter Materie im Labor nachweisen. Am Beispiel der Fische: Die meisten Fische können sehen. Darüber hinaus haben sie ein spezielles Sinnesorgan, das Seitenlinienorgan, mit dem sie Änderungen des Drucks und der Flussrichtung der sie umgebenden Strömung wahrnehmen können. Dieser „Ferntastsinn“ hilft ihnen auch beim Navigieren. Da allerdings die meisten Fischschwärme gewöhnlich nachts an Ort und Stelle bleiben, und da blinde Höhlenfische in der Regel nicht im Schwarm leben, ist das Sehvermögen wohl entscheidend für die Orientierung im Schwarm. Faszinierend ist es, wenn eine ungeordnete Gruppe von Fischen sich spontan zu einem geordneten Schwarm formiert und synchron davonschwimmt. Das müssen nicht alle Fische gleichzeitig beschließen; es reicht, wenn lokal jedes Individuum einfache Regeln befolgt. Wenn die Mehrzahl der Nachbarn eine bestimmte Richtung einschlägt, heißt das für das Individuum: Mitschwimmen und dabei einen Mindestabstand einhalten! So kann sich die Ordnung in einem kleinen Teil einer Gruppe in einer Kettenreaktion auf einen ganzen Schwarm ausbreiten – dabei können bis zu Millionen von Fischen beteiligt sein.

Obwohl im Schwarm mehr Konkurrenz herrscht, überwiegen offensichtlich die Vorteile: effektivere Nahrungssuche, mehr Auswahl bei der Partnerwahl, und vor allem der Schutz vor Raubtieren. Nebenbei hat die Fortbewegung im Schwarm auch physikalische Vorteile – wie Radler, die den Windschatten des Vordermannes nutzen, können Fische sich von ihren Nachbarn „mitziehen“ lassen. Man kann nachweisen, dass Fische hinten im Schwarm sich tatsächlich weniger anstrengen müssen. Auch Vögel, die in einer V-Formation fliegen, nutzen den optimalen Punkt im Wirbelfeld hinter den vor ihnen Fliegenden, der ihnen den optimalen Auf- und Vortrieb verschafft.

Um die Bildung von Schwärmen genauer zu untersuchen, bauen Forscher biologische Schwimmer im Labor nach. Diese müssen sich eigenständig fortbewegen und sich auf Kommando  zu einem Schwarm selbst organisieren können. Meist verwendet man winzige Kugeln oder Tröpfchen, sogenannte Mikroschwimmer. Sie werden durch Reaktionen mit Chemikalien (z.B. Tenside) angetrieben, die im umgebenden Wasser oder Öl gelöst sind. Die Reaktionen erzeugen Strömungen, welche die Schwimmer mitziehen.

Jeder Schwimmer beeinflusst das umgebende Medium, was sich wiederum auf die Nachbarschwimmer auswirkt. Durch diese „Strömungskopplung“  können sich Bakterien und sogar unbelebte Objekte synchron im Schwarm bewegen. Außerdem können weitere Wechselwirkungen auftreten: Man kann künstliche Schwimmer zum Beispiel magnetisch, licht- oder temperaturempfindlich machen und die Kräfte zwischen den Schwimmern und der Umgebung gezielt verändern. Unter bestimmten Bedingungen ist die gemeinsame Fortbewegung energetisch günstiger als die individuelle, und ein Schwarm entsteht. Welche Bedingungen das genau sind, ist ein aktuelles Forschungsthema. Solche Experimente erlauben Rückschlüsse auf  Vorgänge in biologischen Schwärmen.

Am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation untersuchen wir unter anderem  Flüssigkristalltröpfchen. Wir beobachten eine verstärkte Schwarmbildung, wenn die Flüssigkristallmoleküle in den Tröpfchen bei tiefer Temperatur in einen geordneten Zustand übergehen, die „nematische Phase“. Wir vermuten, dass diese innere Strukturänderung der Tröpfchen die Strömungen im Wasser ausreichend beeinflusst, um einen Schwarm zu erzeugen. Das sieht einem Fischschwarm verblüffend ähnlich!

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