Gehirn- oder Muskelzelle?

Der menschliche Körper besteht aus rund 100 Billionen Zellen. Wäre eine Zelle so groß wie ein Tischtennisball, dann könnte man mit dem Volumen der 100 Billionen Zellen mehr als eine Million A380 Jumbojets füllen. Der Bauplan jeder einzelnen Zelle des Körpers liegt größtenteils im Zellkern. Dort ist auf sehr langen wendeltreppenförmigen Molekülen die Erbinformation gespeichert. Jede Treppenstufe entspricht einem Buchstaben vom Code. Viele Buchstaben ergeben gemeinsam ein Gen. In Ribosomen – den Eiweißfabriken der Zelle – wird diese Information abgelesen. Dann wird entsprechend der Abfolge der Buchstaben ein Eiweiß – auch Protein genannt – gebaut. Je nach Abfolge der Buchstaben entsteht ein ganz anderes Protein. Dies hängt davon ab, welches Gen abgelesen wurde. Jede Zelle wandelt also nur einen kleinen Bruchteil des genetischen Codes in Proteine um. So wie man mit einem Kochbuch ganz verschiedene Kuchen backen kann, so kann die Zelle, je nachdem welche Abschnitte des genetischen Codes abgelesen werden, ganz verschiedene Strukturen bilden und somit verschiedene Aufgaben erfüllen. Wie wissen Zellen nun, welcher Teil des genetischen Codes der jeweils für sie relevante ist?


Jeder Mensch ist aus einer einzigen Zelle entstanden – der befruchteten Eizelle. Diese Zelle vermehrt sich zunächst indem sie sich teilt. Aber wie wird aus dem Haufen identischer Zellen ein Mensch? Verschiedene Faktoren sagen dem Zellkern, welche Gene er ablesen soll. Einerseits steuern Stoffe aus dem Inneren der Zelle und aus der Zellumgebung, was genau abgelesen wird. Andererseits können sich Gene auch gegenseitig an- und ausschalten. So wie man seine Entfernung von der Imbissbude durch die Stärke des Pommesgeruchs abschätzen kann, so sagen die Konzentrationen bestimmter Stoffe einer Zelle, wo im Körper sie sich grob befindet. Genau wie ein bestimmter Längen- und Breitengrad jeden Ort auf einer Landkarte eindeutig beschreibt, so bekommt jeder Punkt im Körper eine eindeutige Adresse, weil sich entlang der verschiedenen Raumrichtungen allmählich die Konzentration jener Proteine verändert. Bei einer Fliegenlarven etwa beschreiben die Konzentrationen bestimmter Proteine, ob sich eine Zelle eher am Kopf- oder am Schwanzende der Fliegenlarve befindet. Nun können im Inneren des Zellkerns die passenden Gene ausgelesen werden. Oft entsteht durch ein äußeres Signal zunächst eine Vorläuferzelle. So gibt es etwa Vorläuferzellen für Blutzellen und Nervenzellen. Diese Vorläuferzellen können sich später durch weitere äußere Signale weiter spezialisieren. Es gibt beispielsweise viele verschiedene Nervenzellen mit völlig unterschiedlicher Funktion und Bauweise. Einerseits gibt es motorische Nervenzellen, deren Fortsätze über einen Meter lang werden und vom Rückenmark die Verbindung zu den Füßen herstellen. Andere Nervenzellen erstrecken sich nur über wenige Mikrometer, einem Hundertstel der Breite eines Haares. Bei vielen Nervenzellen entscheidet auch die elektrische Aktivität über die genaue Struktur. Für viele Schaltkreise im Gehirn gilt die Regel „use it or lose it“. Verbindungen, die nicht benutzt werden gehen also verloren.


Zellen, aus denen sich noch ganz viele verschiedene Zellarten entwickeln können, heißen Stammzellen. Besonders viele Stammzellen gibt es in jungen Lebewesen. Bei Neugeborenen gibt es auch in der Nabelschnur Stammzellen. Aber auch erwachsene Menschen haben Stammzellen. Diese sogenannten adulten Stammzellen können sich auch noch zu vielen Zellarten entwickeln. Daher versucht man sie auch einzusetzen um bestimmte Krankheiten zu bekämpfen. Momentan gibt es eine gesellschaftliche Debatte zur Frage, ob embryonale Stammzellen für Forschungszwecke eingesetzt dürfen sollen. Befürworter erhoffen sich davon bessere Erkenntnisse über schwere Krankheiten, Gegner lehnen die Forschung ab, weil Stammzellen das Potential haben, sich zu Wesen zu entwickeln, denen wir Würde zuschreiben.

Zur Redakteursansicht