Otto-Hahn-Medaille für MPIDS-Forscher

Die Max-Planck-Gesellschaft zeichnet heute Wolfgang Keil für herausragende wissenschaftliche Leistungen in seiner Doktorarbeit aus. Der Forscher hat aufgeklärt, wie sich die Aufgabenverteilung im Gehirn selbst organisiert.

5. Juni 2013
Das Gehirn entwickelt sich ständig weiter: Nervenzellen übernehmen neue Aufgaben; neue Verbindungen werden geknüpft. Aus diesem scheinbaren Durcheinander entsteht dennoch nach und nach eine Ordnung. In der Sehrinde des Großhirns etwa bilden sich spezialisierte Regionen aus, in denen alle Zellen dieselbe Aufgabe bei der Verarbeitung optischer Reize übernehmen. Dass Selbstorganisation in dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle spielt, hat Dr. Wolfgang Keil in seiner Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) und dem Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Göttingen gezeigt. Dabei untersuchte er sowohl Vorgänge, die sich innerhalb weniger Wochen nach der Geburt abspielen, als auch Prozesse, die unsere heutige Hirnarchitektur über Millionen von Jahren geprägt haben. Die Max-Planck-Gesellschaft verleiht Keil heute die Otto-Hahn-Medaille für herausragende wissenschaftliche Leistungen in seiner Doktorarbeit.

Besonders dynamisch ist das Gehirn von Säugetieren in den ersten Wochen nach der Geburt – etwa wenn es darum geht, welche Zellen in der Sehrinde Informationen von welchem Auge verarbeiten. Dabei gilt das Prinzip der Arbeitsteilung: Einige Zellen sind auf Informationen vom rechten, andere auf solche vom linken Auge spezialisiert. „Zellen mit derselben Spezialisierung sind bei den meisten Säugetieren zunächst in kleinen Gruppen, so genannten Kolumnen, angeordnet“, erklärt Dr. Wolfgang Keil der während seiner Promotion von Prof. Dr. Fred Wolf, dem Sprecher des Bernstein Zentrums für Computational Neuroscience und Leiter der Forschungsgruppe „Theoretische Neurophysik“ am MPIDS, betreut wurde. Keil konnte zeigen, dass sich diese Kolumnen beim Wachstum des Gehirns nicht einfach aufblähen. Stattdessen bilden sich immer mehr der spezialisierten Regionen aus, die mit der Zeit auch ihre geometrische Form verändern. „Sind die Kolumnen zunächst streifenartig angeordnet, entsteht mit der Zeit eine Art Zick-Zack-Muster“, so Keil.  

Schlüssel zu diesem Ergebnis waren vor allem komplexe Computersimulationen, in denen Keil die Hirnentwicklung nachspielte. Dabei berücksichtige der Forscher zwei Bestrebungen der Zellen. Zum einen lernen sie nicht gern um, sondern versuchen, ihre ursprüngliche Aufgabe beizubehalten. Zum anderen sollen jedoch die Nachbarschaftsverhältnisse möglichst einheitlich sein. „Aus diesen beiden, zum Teil konkurrierenden Bestrebungen ergab sich das Muster wie von selbst“, so Keil.

Ein weiteres Beispiel für einen solchen Prozess, der sich wie von Geisterhand vollzieht, ist die Entwicklung so genannter Orientierungskolumnen in der Sehrinde der meisten Säugetiere. Gemeint sind Gruppen von Neuronen, die alle für das Erkennen bestimmter Kantenverläufe zuständig sind. Einige Zellen etwa verarbeiten die Informationen von senkrechten Kanten, andere die von waagerechten. „Wie diese Orientierungskolumnen im Gehirn angeordnet sind, hängt weder von der Größe des Gehirns ab, noch von seiner Abstammungslinie“, beschreibt Keil das Ergebnis seiner Rechnungen. „Stattdessen folgt die Gehirnarchitektur der unterschiedlichsten Arten denselben Gesetzen.“

Nur bei sehr kleinen Tieren wie etwa Mäusen mit entsprechend kleinem Gehirn ist dies anders: Zellen, die unterschiedliche Aufgaben beim Erkennen von Kantenverläufen übernehmen, sind hier wild durcheinander gewürfelt. Auch die frühsten Vorfahren der Säugetiere, die vor etwa 200 Millionen Jahren lebten, hatten kleine Gehirne – so klein, dass darin nicht einmal eine einzige der spezialisierten Zellgruppen Platz gefunden hätte. Vieles spricht deshalb dafür, dass auch in ihnen die spezialisierten Zellen durchmischt waren. „Die Sehrinde von Mäusen dürften sich folglich im Verlauf der Evolution nur wenig verändert haben“, so Prof. Dr. Fred Wolf. Bei der Entstehung anderer Arten hingegen, muss sich ein radikaler Umbau vollzogen haben ? erstaunlicherweise immer mit dem gleichen Ergebnis.

Wolfgang Keil hat in Jena und Göttingen Physik studiert. Von 2007 bis 2012 promovierte er am MPIDS in der Forschungsgruppe „Theoretische Neurophysik“ von Prof. Dr. Fred Wolf, der mit Keil nun schon das zweite Jahr in Folge einen Otto-Hahn-Preisträger hervorgebracht hat. Während seiner Promotion verbrachte Wolfgang Keil mehrere Forschungsaufenthalte an der Princeton University. Seit 2012 forscht er an der Rockefeller University in New York, wo er sich der Entwicklungsbiologie zugewandt hat. In Göttingen ist Keil auch als begabter Jazzpianist in der Jazz-Band der Abteilung „Nichtlineare Dynamik“ des MPIDS öffentlich in Erscheinung getreten.

Die Max-Planck-Gesellschaft zeichnet seit 1978 jedes Jahr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für herausragende wissenschaftliche Leistungen in ihrer Doktorarbeit mit der Otto-Hahn-Medaille aus. Der Preis ist mit 5000 Euro dotiert.




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