Frage:

Was passiert, wenn wir uns erinnern?

Antwort:

Unsere Erfahrungen und Erinnerungen prägen uns ein Leben lang. Neben den Erbanlagen sind es vor allem unsere Erlebnisse, die uns zu den Menschen machen, die wir sind. Wie aber ist es möglich, dass sich einmal Gesehenes oder Erlebtes so dauerhaft in unser Gehirn einbrennt? Und wie können wir erlerntes Wissen manchmal noch nach Jahrzehnten wieder abrufen? Diese Fragen gehören immer noch zu den größten Rätseln der Hirnforschung, denn bis heute ist es nicht einfach, Lernen und Erinnern eindeutig mit bestimmten Vorgängen im Gehirn in Verbindung zu bringen.

Ein Mechanismus, der jedoch gut für diese Aufgabe geeignet scheint, ist die so genannte „synaptische Plastizität“, also die Formbarkeit von Verbindungen zwischen den Zellen des Gehirns. Nervenzellen verarbeiten Informationen, indem sie kurze elektrische Signale aussenden. Eine Zelle kann sich also immer in zwei möglichen Zuständen befinden: Sie sendet gerade ein Signal oder eben nicht. Das Prinzip ist ähnlich wie bei einem Morsezeichen (kurz oder lang) oder einem Bit in einem Computer (0 oder 1). Sehen wir nun zum Beispiel einen Buchstaben, entsteht im Gehirn ein komplexes Muster, in dem manche Zellen aktiv sind und andere nicht. Derartige Muster bilden die Grundlage für unsere Wahrnehmung.

Die Frage ist nun: Wie kann ein solches Muster entstehen, wenn gar kein Sinneseindruck vorhanden ist, sondern wir uns an etwas erinnern? Hier kommt die synaptische Plastizität ins Spiel. Die Gehirnzellen sind durch Nervenfasern untereinander verbunden. Wo eine Faser auf eine andere Zelle trifft, befindet sich eine chemische Verbindungsstelle, Synapse genannt. Sendet eine Nervenzelle ein elektrisches Signal aus, wandert es die Nervenfaser entlang und bringt die Synapsen dazu, Chemikalien auszuschütten, die das Signal auf die nächste Zelle übertragen. Diese Übertragung kann mehr oder weniger effektiv ablaufen, je nachdem wie viele Chemikalien in der Synapse zur Verfügung stehen und wie gut sie von der anderen Zelle aufgenommen werden.

Die Effektivität der Übertragung ist aber nun nicht immer gleich, sondern kann durch Erfahrung beeinflusst werden: Sind zwei Zellen zur gleichen Zeit aktiv, so werden die Verbindungen zwischen diesen Zellen effektiver. Sieht also zum Beispiel ein Schüler immer wieder eine waagrechte Linie über einer senkrechten Linie und bekommt dabei zu hören, dies sei „der Buchstabe T“, dann wird sich in seinem Gehirn eine immer stärkere Verbindung zwischen dem Muster ergeben, das die beiden Striche repräsentiert, und dem Muster für „den Buchstaben T“. Fragt ihn nun der Lehrer, wie ein „T“ aussieht, bildet sich im Gehirn des Schülers zunächst das Muster für „den Buchstaben T“, aktiviert dann aber wegen der starken Verbindungen auch das Muster für das Bild der beiden Striche – die beiden Muster werden miteinander assoziiert.

Eine solche Assoziation kann auch auf viel subtilere Weise ablaufen – zum Beispiel durch den Geruch einer Blume oder eines Stück Gebäcks, der unwillkürlich Kindheitserinnerungen weckt. Oder der Gedanke an einen Menschen, bei dem die gemeinsame Erlebnisse wieder vor dem geistigen Auge ablaufen. Der Mechanismus ist in allen Fällen der Gleiche: Ein Muster von aktiven Nervenzellen wird durch ein anderes hervorgerufen, weil das gleichzeitige Erleben beider Muster die Übertragung zwischen den beteiligten Zellen verbessert hat.

Alles Schwelgen in der Erinnerung also nur trockene Hirnchemie? Nicht nur – ebenso wenig, wie der Mensch nur eine Anhäufung von Kohlenstoffverbindungen ist.

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