Frage:

Warum stoßen Menschen nicht zusammen?

Antwort:

Warum stoßen Menschen selbst in einer überfüllten Fußgängerzone fast nie zusammen? Diese Frage stellt man sich gelegentlich im Alltag – sei es auf Jahrmärkten, Konzerten oder eben in der Fußgängerzone. Große „Schwärme“ von Menschen sind offensichtlich in der Lage, sich koordiniert zu bewegen. Ist das, was wir da tun, vergleichbar mit dem Schwarmverhalten von Tieren? Um diese Frage beantworten zu können, ist ein Ausflug in die Biologie und Mathematik notwendig.

Fisch- und Vogelschwärme demonstrieren koordinierte Massenbewegungen in ästhetischer Perfektion. Für das menschliche Auge scheint eine unübersichtliche Masse an Individuen plötzlich die Richtung zu wechseln, ohne sich zu verkeilen. Auch dynamische Anforderungen wie plötzliche Winde oder Strömungen werden in Sekundenschnelle ausgeglichen. Jedes einzelne Tier weiß, was es zu tun hat, ohne alle Nachbarn anschwimmen bzw. anfliegen zu müssen.

Es gibt seit einigen Jahren Versuche, solche Schwarmbewegungen mit Hilfe mathematischer Modelle vorauszusagen. Ein prominenter Ansatz funktioniert im Grunde nach drei einfachen Regeln, formuliert aus der Perspektive eines Individuums: (1) Halte einen Minimalabstand zu deinen Nachbarn (Kollisionsvermeidung). (2) Wenn deine Nachbarn zu weit weg sind, bewege dich auf sie zu (Kohäsion). (3) Passe deine Bewegungsrichtung an die durchschnittliche Richtung an (Richtungsanpassung). Mit diesen Regeln wurden z.B. die Bewegungen von Fischschwärmen erfolgreich simuliert.

Es bleibt die Frage, ob uns Menschen ähnliche Verhaltensregeln angeboren sind. Dazu gibt es Forschung, insbesondere in der Biologie. Menschengruppen wurden beispielsweise instruiert, als Gruppen Ziele ohne den koordinierenden Einsatz von Sprache anzulaufen. Wir forschen aktuell selbst im Courant-Zentrum „Evolution des Sozialverhaltens“ der Universität Göttingen zu diesem Thema. Hierzu haben wir ein Computerprogramm entwickelt und Menschengruppen zusammen Figuren auf einem virtuellen Spielfeld bewegen lassen. Jeder „Mitspieler“ war dabei für die Bewegungen einer Spielfigur verantwortlich. Das Entscheidende: Dank Trennwänden und Ohrstöpseln konnten die einzelnen Teilnehmer die Spielzüge ihrer Mitspieler allein auf dem Monitor verfolgen. Eine Kommunikation in der „realen“ Welt war nicht möglich. Die Ergebnisse sind unerwartet deutlich: Menschen können ohne jede Absprache, ohne Gestik, Mimik oder Blickkontakte gemeinschaftlich als Gruppe ein räumliches Ziel anlaufen. Sie verhalten sich in dem Computerspiel so, wie es die drei Verhaltensregeln vorgeben: Sie strömen anfangs in unterschiedliche Richtungen, suchen im Anschluss aber größtenteils wieder ihre Nachbarn. Zudem haben wir einige Spielerinnen und Spieler mit Richtungspräferenzen ausgestattet. Sie waren in der Lage, den Rest der Gruppe in den meisten Fällen „mitzuziehen“, wie in dem mathematischen Modell vorhergesagt wird.

Um abschließend auf die Frage zu antworten: Wir Menschen stoßen selbst in überfüllten Fußgängerzonen selten zusammen, weil wir mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen angeborenen Verhaltensmechanismus verfügen. Er hilft uns, Bewegungen mit anderen zu koordinieren. Ähnlich wie bei Fisch- und Vogelschwärmen haben wir dabei niemals einen Überblick über die gesamte Menschenmasse. Würde man von oben auf die Fußgängerzone schauen, hätte man jedoch den Eindruck, der „Menschenschwarm“ funktioniere als Einheit. Haben zwei Menschen starke Präferenzen für sich kreuzende Bahnen, werden Zusammenstöße durch Konventionen, z.B. „Rechts vor Links“, (mehr oder weniger gut) verhindert. Es kann trotzdem zu Zusammenstößen kommen. Mit der annähernd perfekten Koordination eines Fisch- oder Vogelschwarms kann der Mensch leider nicht dienen.

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