Auswirkungen von Verhalten und Risikowahrnehmung auf die Verbreitung von COVID-19

23. Dezember 2021

Freiwillige und verpflichtende Kontaktreduzierungen sowie Hygienemaßnahmen und Impfungen bestimmen gemeinsam, wie schnell sich COVID-19 ausbreitet. Das individuelle gesundheitsschützende Verhalten ist jedoch nicht konstant, sondern wird zum Teil durch die Risikowahrnehmung ausgelöst, die auf der aktuellen und vergangenen Entwicklung der Pandemie beruht. Ein multidisziplinäres Team von Wissenschaftler*innen aus den Bereichen Epidemiologie, Soziologie und Psychologie hat sich dieser Herausforderung gestellt und datengestützte Erkenntnisse in ihren Modellierungsrahmen integriert. Sie zeigen, dass ein gut gewähltes Mittelmaß an verpflichtenden nicht-pharmazeutischen Interventionen zu weiteren freiwilligen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz führen kann. Diese Beobachtung hat das Potential, den Verlauf der Pandemie verändern, auch im Hinblick auf die neue Omikron-Variante. Zu dem interdisziplinären Forscherteam gehören Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und der Universität Göttingen, André Calero Valdez von der RWTH Aachen, Mirjam Kretzschmar vom University Medical Center Utrecht, Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin und Michael Mäs vom Karlsruher Institut für Technologie.

In Anbetracht der vielen Unsicherheitsfaktoren, ist die Modellierung des Zusammenspiels von menschlichem Verhalten und Krankheitsausbreitung eine der großen Herausforderungen bei der Modellierung von Infektionskrankheiten. In ihrer neuen Arbeit zeigen die Wissenschaftler, wie in verschiedenen Szenarien das Verhalten der Bevölkerung angesichts der Pandemiesituation die Ausbreitung von COVID-19 beeinflusst. Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass bei ausreichender Immunität der Bevölkerung die vorgeschriebenen Beschränkungen auf ein angemessenes Niveau angepasst werden müssen, um zu vermeiden, dass sich die Pandemie und ihre Infektionswellen lediglich verzögern: Werden die Maßnahmen zu schwach oder zu stark gewählt, könnten sie den Spielraum für eine Verhaltensanpassung an das tatsächliche Risikoniveau einschränken, was zu einer Rebound-Welle führen kann, sobald die Beschränkungen aufgehoben werden. Die Forscher fanden heraus, dass ein allgemeines Risikobewusstsein in der Bevölkerung eine Infektionswelle deutlich abschwächen kann. Ohne eine solche Rückkopplungsschleife könnten die Inzidenzen auf ein Niveau von Tausenden täglichen Neuinfektionen pro Million Menschen ansteigen.

Verschiedene mögliche Szenarien für den Ausbreitungsverlauf von COVID-19

In Anbetracht der Ausbreitung der neuen Omikron-Variante zeigt das interdisziplinäre Forschungsteam mehrere Szenarien für die Entwicklung der Fallzahlen und die Belegung der Intensivstationen auf. Angesichts der Ungewissheit über die Wirksamkeit der Auffrischungsimpfung gegen die Infektion, die Übertragung und den Schweregrad der Omikron-Variante können sich diese Szenarien erheblich ändern, sobald mehr Informationen vorliegen. In allen Szenarien, mit Ausnahme des optimistischsten, müssten die Beschränkungen jedoch weiter erhöht werden, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Selbst wenn bei dieser neuen Variante nur ein kleinerer Teil der Infizierten intensivmedizinisch behandelt werden müsste, könnten die Infektionszahlen ohne weitere Beschränkungen enorm ansteigen und dazu führen, dass viele Menschen gleichzeitig unter Quarantäne gestellt werden. Bei lokalen Ausbrüchen oder großen regionalen Infektionsclustern könnten die Quarantäneanforderungen die Funktion kritischer Infrastruktur stark beeinträchtigen. Ein Mangel an Arbeitskräften ist daher selbst in diesem vergleichsweise optimistischen Szenario besorgniserregend, da dieser das tägliche Leben und die Versorgung erschweren könnte. "Man muss bedenken, dass dieses Modell bereits den Effekt einschließt, dass die Menschen vorsichtiger werden, wenn die Zahl der Krankenhausaufenthalte hoch ist. Es geht also nicht nur davon aus, dass das Verhalten der Bevölkerung gleich bleibt", sagt Philipp Dönges vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Erstautor der Studie. Im optimistischen Fall einer stark verminderten Virulenz von Omikron bei geimpften Menschen könnte somit die schiere Anzahl gleichzeitiger Infektionen ein Problem für die Gesellschaft und insbesondere für Krankenhäuser darstellen.

Implikationen der neuen Omikron-Variante

Die dargestellten möglichen Szenarien und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen basieren auf den aktuellen Erkenntnissen und Zahlen zur Omikron-Variante. Die Studie ist bereits online abrufbar, befindet sich aber noch im Peer-Review-Verfahren zur Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift. Die Datengrundlage für die Studie umfasst unter anderem altersabhängige Hospitalisierungsraten, Impfbereitschaft und Kontaktstrukturen, abnehmende Immunität und verschiedene Stufen von Zwangsbeschränkungen. Für die Delta-Variante sind viele der immunologischen Parameter bereits gut bekannt. Für die Omikron-Variante hingegen ist die Unsicherheit noch groß. "Unsere daraus resultierenden Prognosen zur Dynamik der Omikron-Variante decken sich innerhalb der Unsicherheit mit denen vieler anderer Forscher im In- und Ausland, mit denen wir in engem Kontakt stehen. Dieser rege Austausch unter den Forschern ist für uns sehr hilfreich und beruhigend", sagt Viola Priesemann, die die Studie koordiniert hat. In den nächsten Wochen wird die Unsicherheit über die Übertragung und den Schweregrad von Omikron abnehmen, und wir werden die Bandbreite der wahrscheinlichen Szenarien weiter eingrenzen können. "Wir hoffen natürlich, dass von allen möglichen Szenarien für Omikron das beste zutrifft", sagt André Calero Valdez abschließend.

 

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