Europäische Expert*innen zur COVID-19 Pandemie
Wie sollte Europa zukünftig mit der COVID-19-Pandemie umgehen – welche Strategien sollte es verfolgen und welche spezifischen Risiken in Betracht ziehen? Um diese Fragen zu beantworten, haben Forschende vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation mehr als zwei Dutzend Expert*innen aus ganz Europa zusammengebracht und gemeinsam eine ausführliche Situationsanalyse für die kommenden Monate und Jahre erstellt. Die Ergebnisse hiervon sind vor kurzem in den renommierten Fachzeitschriften The Lancet und The Lancet Regional Health - Europe erschienen.
Nach einem deutlichen Rückgang der COVID-19-Inzidenz im Frühjahr in ganz Europa, haben viele Länder ihre Eindämmungs-Maßnahmen gelockert oder sogar ganz aufgehoben. In Kombination mit der Ausbreitung der neuen Delta-Variante führte dies jedoch zu einem erneuten Anstieg der Inzidenz: Neueste Forschungsdaten deuten darauf hin, dass diese Variante deutlich infektiöser ist als die vorherigen. Zudem können auch bereits geimpfte Personen das Virus mit gewisser Wahrscheinlichkeit weitergeben, auch wenn die Impfung selbst sehr effektiv gegen einen schweren Verlauf der Infektion schützt. Vermehrte Reisetätigkeit, die geplante Öffnung der Schulen nach den Sommerferien sowie eine erhöhte Übertragung des Virus in der bevorstehenden nasskalten Jahreszeit betonen die Notwendigkeit einer länderübergreifenden Strategie. „Mir war es sehr wichtig, dass wir eine solche europäische Perspektive entwickeln.“, sagt Viola Priesemann, die die Publikationen mit koordiniert hat. „In jedem europäischen Land ist die Situation etwas anders. Trotzdem brauchen wir eine gemeinsame Strategie, denn das Virus macht an den Grenzen nicht halt.“
Die Autoren erstellen hierzu anhand der aktuellen Daten eine umfassende Analyse der Situation, die Ende Juli 2021 veröffentlicht wurde. Hieraus leiteten sie verschiedene mögliche Szenarien für die Zukunft ab und erläutern, welche Bedingungen ihnen jeweils vorausgehen müssten. In einer ergänzenden Publikation legen die Autoren nun dar, wie sich eine geringe Inzidenz vorteilhaft auf die Pandemie auswirken kann. Im Folgenden wird die Ansicht der Experten inhaltlich wiedergegeben:
“Unsere Expertengruppe hat zwei gegensätzliche Strategien analysiert: 1. Eine rasche Aufhebung der Beschränkungen in der Annahme, dass eine mögliche hohe Inzidenz dank Immunisierung nicht zur Überlastung der Gesundheitssysteme führt; und 2. Eine schrittweise Aufhebung der Beschränkungen im Tempo des Impffortschritts mit dem Ziel niedriger Inzidenzen, denn niedrige Inzidenzen erleichtern die Eindämmung durch Testen und Kontaktnachverfolgung.
Beim derzeitigen Impfstand (August 2021) kann die erste Strategie zu einer Inzidenz von mehreren hundert Infektionen pro 100.000 Menschen und Woche führen, während die zweite Strategie auf Kontaktnachverfolgung basiert und daher eine Inzidenz von deutlich unter hundert erfordern würde. Eine solche Diskrepanz stellt die europäische Zusammenarbeit vor Schwierigkeiten. Denn eine hohe Inzidenz in einem Land kann sich auf ein Nachbarland mit niedrigen Infektionszahlen ausweiten. Aus diesem Grund wurden bereits vor einiger Zeit Test- und Quarantäneauflagen für Reisende und Pendler*innen eingeführt. Diese Einschränkungen bremsen die Wirtschaft und beeinträchtigen das soziale Zusammenleben. Gleich welche der beiden Strategien man wählt: Sie sind nur dann effektiv, wenn die europäischen Länder sich auf eine gemeinsame Strategie einigen, wofür es höchste Zeit ist. Kein Land kann die Pandemie alleine effektiv bekämpfen.
Um jedoch internationale Reisen zu erleichtern, wurde das Digitale Covid-Zertifikat der Europäischen Union für geimpfte Personen eingeführt. Allerdings kann kein COVID-Impfstoff die Übertragung des Virus vollständig verhindern. Daher sollte die Übertragung von Virusvarianten durch geimpfte Personen auch über Grenzen aufmerksam beobachtet werden. Dies erfordert nicht zuletzt die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Strategie für Tests bei Reisenden und Pendler*innen.
Die Vorteile einer niedrigen Inzidenz sind lange bekannt. Zu ihnen gehören unter anderem (1) eine verringerte Mortalität, Morbidität und Long-COVID, (2) die Solidarität mit den noch nicht geschützten Personen, (3) ein niedrigeres Risiko, dass sich neue Varianten entwickeln und ausbreiten und (4) eine effektivere Eindämmung durch Testen und Kontaktnachverfolgung. Außerdem muss (5) weniger Personal auf Grund eigener Infektion oder Kontakt mit einer infizierten Person in Quarantäne und Isolation und (6) eine niedrige Inzidenz ist die beste Garantie, dass Schulen und Kindertagesstätten während der kommenden Herbst-Winter-Saison geöffnet bleiben. Zu guter Letzt könnte eine hohe Inzidenz Krankenhäuser und Intensivstationen in einigen Ländern immer noch an die Grenzen bringen.
Eine derzeit noch unzureichende Durchimpfung in vielen Ländern Europas sowie Unklarheiten bei der Impfung von Kindern sind weitere wichtige Faktoren. Daher empfehlen wir, dass alle europäischen Länder gemeinsam eine niedrige Inzidenz anstreben und halten - zumindest bis alle die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen. Eine hohe Inzidenz in einem Land gefährdet die Pandemiebekämpfung in anderen Ländern Europas und der ganzen Welt, insbesondere solange auch die Impfungen in vielen außereuropäischen Ländern noch kaum verfügbar ist. Insofern ist es ein Akt der Solidarität, die Inzidenzen niedrig zu halten, und das wird für uns in Deutschland mit jeder Impfung einfacher.
Derzeit stehen Staaten und die Gesellschaft noch vor einigen weiteren Herausforderungen: (1) Impfungen müssen für alle leicht verfügbar und zugänglich sein, jedoch verzögert Impfskepsis derzeit den Impffortschritt; (2) es existiert die weit verbreitete falsche Annahme, dass die Freiheit maximiert würde, wenn man eine hohe Inzidenz ignoriert. Jedoch erleichtert eine niedrige Inzidenz die Eindämmung der Pandemie, und wahrt damit die Freiheit aller, einschließlich der gefährdeten Personen; und (3) es fehlt eine kohärente Pandemiereaktion und Kommunikationsstrategie.
Das wahrgenommene Risiko, die Motivation und das Wissen über den Zweck der Maßnahmen sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Menschen diese einhalten und sich schützen. Das Vertrauen der Öffentlichkeit muss daher durch rechtzeitige, klare, konsequente und zuverlässige Kommunikation weiter gefördert werden, einschließlich einer systematischen Bekämpfung von Falschinformationen.
Die Pandemie ist zwar noch nicht überwunden, aber ihr Ende ist vorstellbar: Die Eindämmungsmaßnahmen können aufgehoben werden, sobald eine hohe Durchimpfungsrate erreicht ist und die Impfstoffe auch weiterhin hochwirksam gegen neue Varianten sind. Bis dahin sollte es jedoch das Ziel ein gemeinsames europäisches Vorgehen sein, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten für Europa und die Welt so gering wie möglich zu halten.”