Corona-Pandemie: Regionale Lockdowns können Gesamtdauer der Beschränkungen verkürzen
Für den Erfolg sind strikte lokale Eindämmung und geringe Anzahl überregionaler Infektionen entscheidend
Ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen hat am Computer mögliche Verläufe der Corona-Pandemie simuliert. Die Berechnungen zeigen, dass regionale Maßnahmen die Epidemie mit deutlich weniger Einschränkungen unter Kontrolle halten können als national verhängte Lockdowns, wenn die Anzahl überregionaler Infektionen niedrig genug ist. Dafür sollten regionale Schwellenwerte für lokale Einschränkungen allerdings tiefer liegen als die derzeit in Deutschland festgelegten Werte. Auch wenn niedrigere Schwellenwerte zu häufigeren regionalen Lockdowns führen, würden die langfristigen Vorteile dieser Strategie die dadurch ausgelösten lokalen Maßnahmen überwiegen. Ein einheitlicher Maßnahmenkatalog kann eine rasche Reaktion auf steigende Infektionszahlen in einzelnen Regionen gewährleisten. Durch eine möglichst lückenlose Nachverfolgung ließe sich die Zahl überregionaler Infektionen beobachten und gegebenenfalls senken. Darüber hinaus empfehlen die Forschenden eine deutliche Ausweitung von Tests, bereits bevor Schwellenwerte erreicht werden.
Viele Länder haben die erste Welle der Sars-CoV-2-Epidemie durch weitreichende Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens unter Kontrolle gebracht. Dazu zählten landesweite Kontaktverbote, Reisebeschränkungen und die Schließung von Geschäften und Schulen. Anstelle solcher drastischen nationalen Beschränkungen ergreifen inzwischen viele Länder örtlich und zeitlich begrenzte Maßnahmen.
Ramin Golestanian, Direktor der Abteilung „Physik lebender Materie“ am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Philip Bittihn und ihr Team haben ein Modell entwickelt, das zwei verschiedene Kontaktarten erlaubt: Solche innerhalb einzelner Regionen (z.B. Landkreisen) und solche mit der Gesamtbevölkerung über die Landkreisgrenzen hinaus. Der Anteil der überregionalen Kontakte bestimmt die sogenannte „Durchlässigkeit“, d.h., wie leicht sich Infektionen zwischen den Regionen ausbreiten können. In dem Modell verhängen einzelne Regionen lokale Kontaktbeschränkungen, wenn sie eine bestimmte Anzahl an Infektionen überschreiten, ähnlich wie bei der regionalen Strategie, die derzeit in Deutschland verfolgt wird.
Als Maß für die Einschränkungen für die Bevölkerung haben sie gemessen, wie lange der Durchschnittsbürger in der Simulation in einem lokalen Lockdown verbringen müsste. Diese ‚Einschränkungszeit‘ konnten sie dann mit Ergebnissen für eine ansonsten identische nationale Strategie vergleichen.
Die Studie umfasst Simulationen für Deutschland, England, Italien, New York State und Florida für die nächsten fünf Jahre. Sie berücksichtigt dabei die aktuellen Infektionszahlen, die individuelle regionale Struktur und die jeweilige Effektivität der bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie. Die beobachteten Effekte sind jedoch so universell, dass sie in vielen physikalischen Systemen auftreten, die sich nicht im Gleichgewicht befinden und deren Dynamik von einzelnen, nicht vollständig vorhersagbaren Ereignissen bestimmt wird. Ein besonderer Schwerpunkt liegt daher auf der Rolle einzelner Infektionsereignisse: Während auf dem Höhepunkt der ersten Welle die Dynamik der Epidemie mit einfachen Modellen für ein ganzes Land weitgehend nachvollzogen werden konnten, ist die Ausbreitung in Wirklichkeit ein diskreter Prozess, bei dem einzelne Infektionsereignisse immer gewissen Zufallseinflüssen unterliegen. Wenn die Infektionszahlen in einzelnen Regionen sehr niedrig sind, müssen die besonderen Effekte in diesem sogenannten „Regime kleiner Zahlen“ mit berücksichtigt werden, wie das Team schon in einer früheren Studie [2] festgestellt hatte.
Anteil überregionaler Infektionen entscheidend
Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: Im Vergleich zu einer zentralisierten nationalen Strategie kann eine regionale Eindämmung den Zeitraum, in dem es für die Bürger zu Einschränkungen kommt, erheblich verkürzen – in einigen Fällen um den Faktor zehn. Allerdings darf es dafür nur wenige überregionale Infektionen geben. „Wenn der Anteil der überregionalen Kontakte nur wenige Prozent beträgt, kann die Zahl der Infektionen durch lokale Maßnahmen in einer Region auf null sinken. Die Maßnahmen in verschiedenen Regionen können dann zusammenwirken und lokale Ausbrüche schneller ersticken als durch überregionale Kontakte neue entstehen (ein kooperativer Effekt). Ein Anstieg der überregionalen Infektionen lässt die Gesamt-Einschränkungszeit jedoch abrupt auf das Level der nationalen Strategie wachsen. In Einzelfällen kann eine lokale Strategie bei häufigen überregionalen Infektionen im Vergleich zu einer zentralen, landesweiten Strategie sogar zu mehr Einschränkungen führen“, erklärt Ramin Golestanian.
Überregionalen Infektionen sollte also gerade bei lokalen Maßnahmen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Sie unter den Wert zu senken, bei dem die Länge der nötigen Beschränkungen abrupt abnimmt, erfordert nicht zwangsläufig Einschränkungen der Mobilität. Stattdessen könnten Personengruppen mit einem höheren Risiko für eine überregionale Krankheitsverbreitung identifiziert und mit besserer Schutzausrüstung ausgestattet werden. „Das Problem ist, dass wir derzeit keine Zahlen über die Rolle von überregionalen Infektionen in der Ausbreitungsdynamik haben. Bei den derzeit niedrigen Infektionszahlen könnten wir diese Informationen durch eine effektive Kontaktverfolgung erhalten. Mit diesen Daten wäre es viel einfacher, konkrete Maßnahmen zu Verringerung überregionaler Infektionen zu diskutieren, sollte dies nötig sein. Die Freiheit innerhalb der Regionen würde dadurch nicht eingeschränkt. Im Gegenteil – viele zukünftige Einschränkungen würden verhindert“, sagt Philip Bittihn.
Strikte lokale Eindämmung nötig
Für die Verhängung lokaler Maßnahmen in einer Region zeigen die Simulationen, dass ein Schwellenwert von rund zehn Infektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen erfolgreich ist. Dieser Wert liegt niedriger als die derzeit in Deutschland festgelegten 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner. „Natürlich könnte solch eine strikte Kontrolle mit niedrigen Schwellenwerten zunächst zu mehr Lockdowns führen. Langfristig würde die Gesamtdauer der Einschränkungen allerdings geringer ausfallen. Um solch niedrige Schwellenwerte umzusetzen, sollten zudem umfangreich Corona-Tests durchgeführt werden, damit die Zahl unentdeckter Fälle gering ist“, sagt Ramin Golestanian.
Im Vergleich zu anderen Ländern könnte Deutschland besonders einfach von lokalen Maßnahmen profitieren und den Zeitraum von Kontaktbeschränkungen möglichst kurz halten. „Staaten mit einer kleingliedrigen Regionalstruktur können leichter bestehende Verwaltungsstrukturen nutzen, um lokale Eindämmungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen, die die gezeigten Effekte ausnutzen. Dies liegt daran, dass es in Regionen mit kleinerer Bevölkerung wahrscheinlicher ist, völlige Infektionsfreiheit zu erreichen. Staaten mit vielen sehr bevölkerungsreichen Regionen dagegen könnten deren negativen Auswirkungen kompensieren, indem sie diese, wenn möglich, in kleinere Einheiten unterteilen, oder strengere Schwellenwerte für die Einleitung lokaler Lockdowns festlegen“, erklärt Bittihn.
Intuitiv scheint es selbstverständlich, dass lokale Maßnahmen weniger Einschränkungen für die Bevölkerung bedeuten – schließlich werden sie zielgenau nur dort eingesetzt, wo sie benötigt werden. Die Studie klärt nun die Voraussetzungen, unter denen eine echte Reduzierung der Gesamtbeschränkungen erreicht werden kann: angemessene Schwellenwerte für lokale Lockdowns, niedrige überregionale Infektionsraten und regionale Verwaltungsstrukturen für die Umsetzung der Maßnahmen.