Die Rolle des Zufalls in Ausbreitungsprozessen

Forschungsbericht (importiert) 2012 - Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Autoren
Hallatschek, Oskar
Abteilungen
MPG-Forschungsgruppe „Biophysics and Evolutionary Dynamics“
Zusammenfassung
Ausbreitungsphänomene gibt es in vielen komplexen Systemen. Sie spielen z. B. eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Epidemien und der Verbreitung evolutionärer Fortschritte. Die meisten bisherigen Theorien solcher Prozesse vernachlässigen oder vereinfachen den Einfluss von Zufallseffekten. Gerade im Falle der Evolution zeigt sich aber, dass evolutionäre Anpassung nicht zu verstehen ist unter Vernachlässigen von Zufällen. Wir berichten von einem signifikanten Fortschritt in der Analyse solcher stochastischer Ausbreitungsprozesse.

Wellenförmige Ausbreitungsprozesse durchziehen unseren Alltag: Die Ausbreitung von Ionen, Krankheitserregern und vorteilhaften Mutationen bestimmen den menschlichen Herzschlag, die jährlichen Influenzaepidemien beziehungsweise den evolutionären Fortschritt [1]. Betrachten wir das Beispiel der Evolution näher, so handelt es sich um folgendes Phänomen: Die meisten zufälligen Änderungen des Erbguts führen zu Mutationen mit einem negativen Effekt auf die Zahl der Nachkommen. Einige wenige Mutationen sind aber vorteilhaft und erhöhen die Reproduktionsrate der „Mutanten". Durch ihre erhöhte Reproduktionsrate, auch Fitness genannt, werden diese Mutanten im Laufe der nächsten Generationen immer häufiger, sodass sie sich in der Bevölkerung wie eine Welle ausbreiten. Ein ganz ähnlicher Prozess führt zur Ausbreitung von Epidemien, wobei es hier die Krankheitserreger sind, die sich von Wirt zu Wirt ausbreiten. Ein gründliches Verständnis der Form und Ausbreitung dieser Wellen hat zahlreiche Anwendungen von der Steuerung chemischer Reaktionen bis hin zur Vorhersage der Ausbreitung von Epidemien. Seit langer Zeit wird daher intensiv an Ausbreitungsprozessen in komplexen Systemen geforscht, wobei es zentral um die Frage geht, wie sich die Wellenfronten überhaupt bilden, als Folge der Interaktionen zwischen Individuen und deren räumlicher Zufallsbewegung. Um die Analyse zu vereinfachen, vernachlässigten bisher die meisten theoretischen Studien zufällige Fluktuationen in der Anzahl der Individuen. Solche Fluktuationen sind aber unvermeidlich in endlichen Systemen von diskreten Individuen. Im Falle der Evolution lässt sich dies leicht veranschaulichen: Auch wenn man noch so gute Gene in sich trägt, kann es sein, dass man zufällig bei einem Unfall oder einer Naturkatastrophe ums Leben kommt. Solche Zufälle können (nicht nur gefühlt) den Gang der Dinge ganz wesentlich beeinflussen. In der Theorie der Ausbreitungsprozesse wurde die Wichtigkeit von Zufällen erst vor etwa 15 Jahren augenfällig, als detaillierte stochastische Simulationen möglich wurden [2,3]. Einfache Modelle der biologischen Evolution und der Bevölkerung gelten mittlerweile als Paradebeispiel für diese drastische Zufallssensibilität, weil sie von den wenigen Individuen einer Population abhängen, die das größte Reproduktionspotenzial besitzen. In der vergangenen Dekade entwickelte sich die Analyse von stochastischen Ausbreitungsprozessen zu einer großen Herausforderung für die statistische Physik, die lange Zeit einer systematischen Analyse unzugänglich zu sein schien [3].

In einer Reihe von theoretischen Studien wurde der Einfluss von Zufällen bei Ausbreitungsprozessen ergründet. Frühere Studien über stochastische Reaktions-Diffusions-Systeme waren vor allem auf den Grenzfall sehr schwacher stochastischer Schwankungen konzentriert [2,3]. In einem ersten Projekt untersuchten wir Ausbreitungswellen im entgegengesetzten Regime, in dem Fluktuationen dominieren [4]. In einem zweiten Projekt konnte gezeigt werden, dass Fluktuationen Ausbreitungswellen regelrecht „antreiben“, was im Gegensatz zu allen bisherigen Studien stand, die Fluktuationen als einen eher bremsenden Effekt verstanden hatten [5]. Im dritten und wichtigsten Projekt, auf das später näher eingegangen wird, konnte gezeigt werden, dass es eine exakte Methode gibt, fluktuierende Ausbreitungsprozesse zu beschreiben [6,7]. Diesen Ansatz wird vorgestellt, der es erlaubt ganz allgemein Fluktuationen in Reaktions-Diffusions-Systemen anhand einfacher Modelle der asexuellen Anpassung zu analysieren, die wir kürzlich auf mikrobielle Populationen anwenden konnten [8].

Die fluktuierende Spitze von Wellenfronten

Einfache Modelle der Evolution [2] sind spektakuläre Beispiele für fluktuierende Ausbreitungswellen wegen ihrer drastischen Empfindlichkeit gegenüber selbst geringsten Schwankungen in der Wellenspitze. Wie in Abbildung 1 dargestellt, entspricht die Bewegung dieser Wellen der kontinuierlichen Steigerung der Wachstumsrate, oder Fitness, durch spontane Mutationen in einer Bevölkerung von asexuellen Individuen. Die Wellengeschwindigkeit ist ein Maß dafür, wie schnell es der Bevölkerung gelingt, sich der Umgebung evolutionär, d. h. durch Anhäufung von vorteilhaften Mutationen, anzupassen. Erstaunlicherweise findet man in deterministischen Modellen, die Fluktuationen vernachlässigen, dass die Adaptationsgeschwindigkeit immer schneller anzuwachsen scheint [6]. In stochastischen Simulationen sowie in Experimenten mit Mikroben, findet man hingegen eine näherungsweise konstante Adaptationsgeschwindigkeit. Um diesen stationären Zustand zu reproduzieren, müssen theoretische Modelle also notwendigerweise die Fluktuationen berücksichtigen. Heuristisch gelang dies lange Zeit nur durch die Einführung eines recht beliebigen „cutoffs“ in der Spitze der Welle [2,3]. Das Verhältnis zwischen Wellengeschwindigkeit und Bevölkerungsgröße wurde ausgiebig in der neueren Literatur untersucht [3], mit einigen Kontroversen in Bezug auf deren universelles Verhalten, um die Ergebnisse von mikrobiellen Evolutionsexperimenten interpretieren zu können.

Ein genauerer Blick auf diese Evolutionsmodelle zeigt ihre charakteristische Struktur: Die Reproduktion von Individuen wird durch einen Verzweigungsprozess realisiert – Individuen teilen sich ähnlich wie Bakterien gemäß ihrer individuellen Wachstumsrate. Diese Wachstumsrate oder „Fitness“ wiederum ist durch das Genom festgelegt. Die Fitness unterliegt kleinen Variationen durch zufällige Mutationen, die in der Regel auf „Fehler“ beim Reproduktionsprozess zurückzuführen sind. Diese Fitnessvariationen werden in Modellen durch eine Zufallsbewegung generiert, ganz so wie die räumliche Zitterbewegung von Pollen in einem Wassertröpfchen, die Brown 1827 unter einem Mikroskop beobachten konnte. Dies führt zu einem Diffusionsprozess entlang der Fitnessachse [2]. Darüber hinaus enthalten alle Evolutionmodelle eine Nichtlinearität, die die Größe der Gesamtpopulation auf einen festen Wert fixiert. Diese Nichtlinearität beschränkt das exponentielle Anwachsen der Population und trägt der Tatsache Rechnung, dass die Bevölkerung in einer realistischen Welt mit endlichen Resourcen endlich bleiben muss.

In einer kürzlich in PNAS veröffentlichten Studie [6,7] haben wir eine natürliche Verallgemeinerung der oben genannten Modelle entwickelt. Statt eine feste Bevölkerungsgröße zu erzwingen, wird eine ganze Klasse von Zwangsbedingungen betrachtet. Daraus hat sich ergeben, dass es für Evolutionsmodelle (tatsächlich jede Art von Verzweigungsprozessen) unter der Menge all dieser Zwangsbedingungen genau eine gibt, für die die resultierende fluktuierende Welle analytisch beschreibbar ist. Es stellte sich heraus, dass die Vorhersagen dieses analytisch behandelbaren Modells über die Adaptationsgeschwindigkeit sehr gut übereinstimmen mit den nicht lösbaren Modellen fester Populationsgröße. Abbildung 2 zeigt die Abhängigkeit der Adaptationsrate von der Populationsgröße und den Mutationsraten. Diese Studie stellt somit einer der ersten Ansätze dar, um Ausbreitungsprozeße mit Fluktuationen exakt zu behandeln. Das mathematische Gebilde wurde mittlerweile auch auf komplexere Adaptationsmodelle angewandt, die sich durch ein realistischeres Mutationsspektrum auszeichnen [8]. Ganz allgemein kann diese Theorie auf eine breite Klasse von Modellen angewandt werden, in denen Fluktuationen durch Verzweigungsprozesse generiert werden. Aufgrund dieser Vielseitigkeit, erhoffen wir uns durch unsere theoretische Methode neue Erkenntnisse in einer ganzen Reihe von bislang analytisch unzulänglichen Fragestellungen.

Literaturhinweise

1.
Murray, J. D.
Mathematical Biology I.
Springer (2004)
2.
Tsimring, L.; Levine, H.; Kessler, D.
RNA virus evolution via a fitness-space model
Physical Review Letters 76, 4440-4443 (1996)
3.
Van Saarloos, W.
Front propagation into unstable states
Physics Reports 386, 29-222 (2003)
4.
Hallatschek, O.; Korolev, K. S.
Fisher waves in the strong noise limit
Physical Review Letters 103, 108103 (2009)
5.
Hallatschek, O.
Noise driven evolutionary waves
PLoS Computational Biology 7(3): e1002005 (2011)
6.
Hallatschek, O.
The noisy edge of traveling waves
Proceedings of the National Academy of Sciences 108, 1783-1787 (2011)
7.
Fisher, D. S.
Leading the dog of selection by its mutational nose
Proceedings of the National Academy of Sciences 108, 2633-2634 (2011)
8.
Good, B. H.; Rouzine, I. M.; Balick, D. J.; Hallatschek, O.; Desai, M. M.
Distribution of fixed beneficial mutations and the rate of adaptation in asexual populations
Proceedings of the National Academy of Sciences 109, 4950–4955 (2012)
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