Die Kontaktsperre bringt die Wende
Wenn die Beschränkungen im sozialen Leben noch etwa zehn Tage aufrechterhalten werden, ist eventuell eine Lockerung der Maßnahmen möglich
Die tiefgreifenden Einschränkungen im alltäglichen Leben zeigen offenbar die erhoffte Wirkung. Denn in Deutschland geben die täglichen Fallzahlen Grund zum Optimismus. Und einer Modellrechnung von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation ist das auf die Kontaktsperre zurückzuführen, die seit dem 22. März gilt. Der Simulation zufolge hat diese Maßnahme die gefürchtete exponentielle Ausbreitung von Covid-19 gebrochen. Die Rechnung des Göttinger Teams hatte bereits die Wirkung der Beschränkungen vom 8. und 16. März belegt; diese hatten den exponentiellen Verlauf der Epidemie jedoch noch nicht stark genug abgeschwächt. Die Göttinger Simulation zeigt auch: Um die Corona-Epidemie in den Griff zu bekommen, müssen wir soziale Kontakte noch etwa zwei Wochen auf ein Minimum beschränken.
Es ist eine ermutigende Entwicklung, aber keine Entwarnung. Die Zahl der Corona-Infektionen wächst in Deutschland seit dem vergangenen Wochenende deutlich langsamer. „Wir sehen eine klare Wirkung der Kontaktsperre vom 22. März, und natürlich den Beitrag von jeder einzelnen Person“, sagt Viola Priesemann, die am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation eine Forschungsgruppe leitet. „Unsere Gesellschaft kann wirklich stolz darauf sein, dass sie diese Wende geschafft hat.“
Das Team simuliert seit Mitte März gemeinsam mit Wissenschaftlern des Göttingen Campus den Verlauf der Corona-Epidemie in Deutschland. Die Modellrechnungen ermöglichen es nicht nur, die Effekte der Beschränkungen im öffentlichen Leben vom 8., 16. und 22. März abzuschätzen. Dem Modell zufolge bewirken die jetzt geltenden Maßnahmen, dass die Anzahl an Neuerkrankungen mit Covid-19 in den kommenden zwei Wochen weiter absinken wird, von statistischen Schwankungen einmal abgesehen. In der Folge würde sich die Zunahme bestätigter Infektionen zusehends abschwächen, sodass die schwer an Covid-19 Erkrankten in Deutschland weiterhin bestmöglich versorgt werden können. Das wäre in einem anderen Szenario vielleicht schwieriger gewesen: „Unsere Modellrechnung zeigt auch, dass wir inzwischen rund 200.000 bestätigte Infektionen hätten, wenn es etwa bei den milden Beschränkungen vom 8. März geblieben wäre, ganz zu schweigen davon, wenn es gar keine Maßnahmen gegeben hätte“, so Viola Priesemann.
Den Modellrechnungen zufolge sollten die Fallzahlen in etwa zehn Tagen so gering sein, dass die Kontaktsperre gelockert werden könnte
Die effektive Ausbreitungsrate entspricht der Differenz zwischen der Rate mit der sich Personen neu infizieren und der Rate mit der Erkrankte genesen, sodass sie nicht mehr zur Ausbreitung der Infektion beitragen. Sie bestimmt, wie hoch die Fallzahlen ein bis zwei Wochen später liegen werden, nachdem die Testergebnisse der Erkrankten vorliegen. Das Modell des Göttinger Teams bezieht auch ein, dass genesene Personen immun wurden und nicht mehr zur Ausbreitung der Infektion beitragen. „Auch durch die Beschränkungen um den 8. März, die etwa Fußballspiele ohne Fans nach sich zogen, sowie die zusätzlichen Maßnahmen um den 16. März wie etwa die Schließung von Schulen, Kindergärten und von vielen Geschäften nahm die effektive Ausbreitungsrate bereits deutlich ab“, sagt Michael Wilczek, Co-Autor der Studie. „Aber sie sank noch nicht auf oder unter Null, sodass die gefürchtete exponentielle Ausbreitung des Corona-Virus damit noch nicht gebrochen wurde.“
Um in wenigen Wochen Lockerungen der Kontaktsperre zu ermöglichen, muss das Leben in Deutschland allerdings vorerst weiter auf Notbetrieb laufen. Denn auch aus der Göttinger Modellrechnung lässt sich eine so naheliegende wie ernüchternde Einsicht ableiten: „Wenn jetzt die Beschränkungen aufgehoben werden, sind wir wieder ganz am Anfang“, sagt Viola Priesemann. „Wir sehen ganz klar: Die Fallzahlen in zwei Wochen hängen von unserem Verhalten jetzt ab.“
Das heißt aber auch: Wenn wir die Regeln in den kommenden zwei Wochen weiter sehr sorgfältig einhalten, könnte es im besten Szenarium bald nur noch einige Hundert neue Fälle pro Tag geben. Mit so wenigen Neuinfektionen könnten die Kontakte von allen Erkrankten weitgehend identifiziert und isoliert werden. „Ich finde es sehr ermutigend, dass wir mit einer starken Einschränkung, die in den kommenden zehn Tagen noch anhält, die Neuinfektionen soweit zurückdrängen könnten, dass wir danach mit Vorsicht, aber hoffentlich mit deutlicher weniger Einschränkungen weitermachen können“, sagt Viola Priesemann.
Die Vorhersagen werden ständig aktualisiert
Um die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie möglichst effektiv zu gestalten, wäre es für die politischen Entscheidungsträger natürlich hilfreich, wenn sie die Wirkung einzelner Beschränkungen kennen würden. Wenn sie also wüssten, ob etwa die Schließung der Schulen und Kindergärten, die Beschränkung im Handel oder das Verbot von privaten Begegnungen die Epidemie besonders effektiv einhegt. Das kann aber auch die Göttinger Modellrechnung nicht klären. „Es ist schon schwierig genug, die Effekte der Maßnahmenpakete einzuschätzen, ganz zu schweigen von den einzelnen Maßnahmen“, sagt Viola Priesemann. Und während die tatsächliche Entwicklung der Ansteckungszahlen mit etwas Verzögerung zeigt, ob ihr Team mit den entsprechenden Annahmen richtiglag, ist ein solcher Realitätscheck für die geschätzten Effekte einzelner Regeln bisher nicht möglich.
Ungeachtet dessen aktualisieren die Forscherinnen und Forscher um Viola Priesemann die Modellrechnung ständig. „Mein Team hat in den letzten Wochen rund um die Uhr daran gearbeitet, das Modell zu entwickeln. Jetzt können wir jeden Tag einen neuen Datenpunkt hineinfügen und sehen, wie die sich die Prognosen verändern“, sagt sie. Die Göttinger Forscher machen dabei nicht nur ihre Daten und Ergebnisse im Internet zugänglich, sondern stellen auch ihr Modell für Kollegen weltweit zur Verfügung, damit diese die Entwicklung der Epidemie auch für andere Länder oder für einzelne Regionen etwa in Deutschland simulieren können. „Wir haben ein paar sehr anstrengende Wochen hinter uns, aber es freut uns sehr, dass wir mit unserer Forschungsarbeit etwas beitragen können, um den richtigen Umgang mit der Corona-Epidemie in Deutschland zu finden.“