Warum swingt Jazz?

Göttinger Studie klärt die Rolle zeitlicher Schwankungen für das Swing-Feeling im Jazz

17. Januar 2020

Duke Ellington und Irving Mills widmeten dem Swing-Phänomen sogar einen Song. „It Don’t Mean a Thing, If It Ain’t Got That Swing” nannten sie 1931 eines ihrer Stücke: „Es bedeutet nichts, wenn es nicht den Swing hat.” Aber was genau eine Jazzdarbietung zum Swingen bringt, ist bis heute nicht wirklich geklärt. Ein Team des Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) und der Universität Göttingen untersuchte nun empirisch, welche Rolle das Microtiming dabei spielt - ein bislang unter Musikexperten kontrovers diskutiertes Thema. Microtiming Deviations nennen Fachleute winzige Abweichungen von einem exakten Rhythmus. Mit digitalen Jazzpiano Aufnahmen, deren Microtiming in verschiedener Weise manipuliert und in einer Onlinestudie von 160 Profi- und Amateurmusikern bewertet wurde, klärte das Göttinger Team jetzt die Kontroverse um die Rolle der zeitlichen Mikroabweichungen für das Swing-Feeling.

Kopf und Fuß wippen mit

Jazz, aber auch Rock- oder Popmusik kann Zuhörer buchstäblich mitreißen. Unwillkürlich wippt man mit dem Fuß mit oder nickt rhythmisch mit dem Kopf. Zusätzlich zu diesem als Groove bekannten Phänomen kennen Jazzmusiker seit den 1930er-Jahren den Begriff des Swing – nicht nur als Stilrichtung, sondern auch als rhythmisches Phänomen. Bis heute aber tun Musiker sich schwer damit, zu charakterisieren, was den Swing ausmacht. So schrieb etwa Bill Treadwell in seiner Einführung „What is Swing": „Du kannst es fühlen, aber du kannst es einfach nicht erklären". Musiker und viele Musikbegeisterte haben intuitiv ein Gespür dafür, was Swing bedeutet. Musikwissenschaftler haben aber zweifelsfrei bisher nur ein eher offensichtliches Merkmal charakterisiert: Aufeinanderfolgende Achtelnoten werden nicht gleich lang gespielt, sondern die erste länger als die zweite (die Swing-Note). Das Swing-Verhältnis (englisch swing ratio), also das Längenverhältnis dieser Noten, nimmt oft einen Wert in der Nähe von 2:1 an, und man fand heraus, dass es bei höherem Tempo tendenziell kleiner und bei niedrigerem Tempo größer wird.

Sind zeitliche Mikroabweichungen wichtig für den Swing im Jazz?

Darüber hinaus diskutieren Musiker und Musikwissenschaftler besonders auch rhythmische Schwankungen als Merkmal des Swing. So spielen Solisten gelegentlich für kurze Zeit merklich nach dem Beat, was im Fachjargon “laid-back“ heißt. Aber ist dies für das Swing-Gefühl nötig, und welche Rolle spielen kleinere Abweichungen im Timing, die selbst erfahrene Zuhörer nicht bewusst wahrnehmen? Einige Musikwissenschaftler vertraten seit längerem die Meinung, dass Jazz nur dank solcher Schwankungen (zum Beispiel zwischen den verschiedenen Instrumenten) swingt. Diese Frage wurde nun in einem interdisziplinären Projekt von der Physik bis zur Psychologie untersucht, in dem die physikalischen Aspekte von Theo Geisel und Viola Priesemann vom MPIDS und die psychologischen von York Hagmayer und  Thorsten Albrecht vom Georg-Elias-Müller Institut für Psychologie der Universität Göttingen betreut wurden. Die Forscherinnen und Forscher kamen in ihrer empirischen Studie zu einem anderen Ergebnis. Demnach fühlen Jazzmusiker den Swing etwas stärker, wenn das Swing-Verhältnis im Verlauf einer Darbietung konstant bleibt, d.h. möglichst wenig schwankt.

Motiviert wurden die Forschenden um Theo Geisel, Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, zu der Studie, weil sie sich nicht damit zufriedengeben wollten, dass das Wesen des Swings rätselhaft bleibt: „Wenn es Jazzmusiker fühlen, aber nicht eindeutig erklären können, sollten wir doch in der Lage sein, die Rolle der Mikroabweichungen operational zu charakterisieren, indem wir Aufnahmen mit originalem und systematisch manipuliertem Timing von ausgewiesenen Jazzmusikern bewerten lassen“, sagt Theo Geisel, der selbst Jazz-Saxophon spielt.

Manipulation der zeitlichen Mikroabweichungen

Also nahm das Team zwölf Stücke mit einem professionellen Jazzpianisten zu vorab generierten präzisen Rhythmus-Tracks von Bass und Schlagzeug auf und manipulierte dessen Timing auf drei verschiedene Arten: Sie eliminierten z.B. alle zeitlichen Mikroabweichungen des Pianisten in dem Stück, das heißt sie „quantisierten“ sein Spiel, dann verdoppelten sie  die Mikroabweichungen und bei der dritten Manipulation invertierten die Göttinger Forscher diese. Wenn also der Pianist in der originalen Version eine Swing-Note 3 Millisekunden vor der durchschnittlichen Swing Note für dieses Stück spielte, so verschoben die Forscher die Note in der invertierten Version um den gleichen Betrag, also um 3 Millisekunden, hinter die durchschnittliche Swing Note. Anschließend bewerteten 160 Profi- und Amateurmusiker in einer online-Befragung, inwiefern die manipulierten Stücke natürlich oder fehlerhaft klangen und vor allem wie stark die verschiedenen Versionen swingen.

Unerwartetes Ergebnis

„Wir waren überrascht", sagt Studienleiter Theo Geisel, „denn die Teilnehmer der Onlinestudie bewerteten im Schnitt die quantisierten Versionen der Stücke, also diejenigen ohne zeitliche Mikroabweichungen, sogar als etwas mehr swingend als die Originale, Mikroabweichungen sind also nicht zwingend für das Swingen.“ Stücke mit verdoppelten Mikroabweichungen stuften die Testhörer als am wenigsten swingend ein. „Anders als wir ursprünglich erwarteten, hatte die Inversion der zeitlichen Mikroabweichungen lediglich bei zwei Stücken einen negativen Einfluss auf die Bewertungen“, so York Hagmayer. Wie viel Swing die Befragten den Stücken zuschrieben, hing dabei auch von ihrem musikalischen Hintergrund ab. Professionelle Jazzmusiker vergaben generell etwas niedrigere Swing Bewertungen – unabhängig vom Stück und von der Version. Am Ende der Studie fragten die Forscherinnen und Forscher die Teilnehmer, was ihrer Meinung nach ein Stück zum Swingen bringt. Die Befragten nannten weitere Faktoren wie das dynamische Zusammenspiel der Musiker, das Setzen von Betonung und Akzenten sowie die Interaktion von Rhythmus und Melodie. „Deutlich wird hierbei, dass der Rhythmus zwar eine große Rolle spielen mag, dass aber noch weitere Faktoren wichtig sind, welche in weiterer Forschung untersucht werden sollten“, sagt Annika Ziereis, neben George Datseris Erstautorin der Arbeit.

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