Mit dem Strom ans Ziel

Max-Planck-Forscher machen Flimmerhärchen-basiertes Netzwerk im Gehirn sichtbar, das lebenswichtige Botenstoffe transportieren könnte

8. Juli 2016

Wenn wir uns den Kopf anstoßen, geht das meist harmlos aus. Dies verdanken wir den mit Flüssigkeit gefüllten Hirnkammern in unserem Gehirn. Sie fangen Stöße oder Erschütterungen auf und polstern empfindliche Bestandteile unseres Nervensystems wirksam ab. Das Hirnwasser hat aber weit mehr als eine Schutzfunktion: Es entfernt zellulären Müll, versorgt unser Nervengewebe mit Nährstoffen und transportiert wichtige Botenstoffe. Doch wie diese Botenstoffe im Gehirn an ihr Ziel befördert werden, ist bisher ungeklärt. Göttinger Max-Planck-Forscher haben jetzt herausgefunden, dass winzige Flimmerhärchen auf der Oberfläche spezialisierter Zellen den Weg weisen könnten. Durch ihre synchronisierten Schlagbewegungen erzeugen sie ein komplexes Netzwerk dynamischer Ströme, die wie Förderbänder fungieren und darüber molekulare „Fracht“ transportieren. Die Ergebnisse der Wissenschaftler lassen vermuten, dass diese Ströme Botenstoffe gezielt an ihre Wirkorte im Gehirn weiterleiten. (Science, 8. Juli 2016)

Millionen von Flimmerhärchen auf der Oberfläche spezialisierter Zellen im Inneren unseres Körpers machen diesen buchstäblich zu einer haarigen Angelegenheit. Flimmerhärchen befreien unsere Atemwege von Staub, Schleim und Krankheitserregern; transportieren Eizellen durch den Eileiter, und Spermien bewegen sich mit ihrer Hilfe vorwärts. Auch die vier Hirnkammern in unserem Gehirn – die sogenannten Ventrikel – werden von einer Schicht hoch spezialisierter Zellen ausgekleidet, die auf ihrer Oberfläche mit Bündeln von Flimmerhärchen besetzt sind. Zwar ist jedes einzelne von ihnen nur wenige tausendstel Millimeter groß. Doch wenn Hunderte von ihnen im Gleichklang peitschenartig schlagen, können diese Härchen kräftige Ströme erzeugen.

Gregor Eichele und Regina Faubel vom Max-Planck-Institut (MPI) für biophysikalische Chemie ist es gemeinsam mit Eberhard Bodenschatz und Christian Westendorf vom MPI für Dynamik und Selbstorganisation jetzt gelungen, das komplexe Netzwerk dieser Ströme in isoliertem Hirnkammergewebe sichtbar zu machen. Für ihre Untersuchungen konzentrierten sich die Göttinger Forscher auf die dritte Hirnkammer, die in den Hypothalamus eingebettet ist. „Der Hypothalamus ist eine sehr wichtige Schaltzentrale. Er steuert beispielsweise Kreislauf und Körpertemperatur, aber auch Sexualverhalten, Nahrungsaufnahme und Hormonhaushalt. Es gibt daher einen umfangreichen Transport von Botenstoffen über das Hirnwasser vom und zum Hypothalamus“, erklärt Gregor Eichele, Leiter der Abteilung Gene und Verhalten am MPI für biophysikalische Chemie.

Leuchtmarker im Nervengewebe verfolgen

Die Flüssigkeitsbewegung lässt sich allerdings unter einem Mikroskop nicht direkt beobachten. Um diese sichtbar zu machen, entwickelte Regina Faubel, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Eicheles Abteilung, einen neuen experimentellen Ansatz mit isoliertem Hirnkammergewebe aus der Maus. In der Kulturschale injizierte sie dem Nervengewebe winzige fluoreszierende Kügelchen, die daraufhin als Leuchtmarker mit dem Nährmedium mitschwammen. Nachfolgend erfasste die Wissenschaftlerin den Weg eines jeden Kügelchens innerhalb des Nervengewebes unter dem Mikroskop. Mithilfe eines von ihrem Kollegen Christian Westendorf eigens dafür entwickelten Computerprogramms setzten die Forscher die umfangreichen Daten dann zu einem wissenschaftlich auswertbaren Bild zusammen.

„Wir sehen auf diesen Bildern ein komplexes Netz von ‚Flüssigkeitsstraßen’ entlang der Innenseite der Hirnkammer. Doch anders als das Blut, das durch unsere Blutgefäße fließt, sind diese Straßen nicht durch Wandungen begrenzt. Die spannende Frage für uns war daher: Wird das Strömungsmuster allein durch das synchronisierte Schlagen der Flimmerhärchen erzeugt?“, berichtet Regina Faubel, Erstautorin der Studie, die jetzt in der aktuellen Ausgabe des renommierten Wissenschaftsjournals Science veröffentlicht wurde. Im nächsten Schritt filmten die Wissenschaftler die Flimmerhärchen daher live in Aktion und bestimmten die Schlagrichtung der Flimmerhärchen sowie die daraus resultierende Strömung. „Unsere Experimente haben gezeigt, dass die Ströme tatsächlich allein durch die Bewegungen der Härchen erzeugt werden. Diese funktionieren wie Förderbänder und wären damit durchaus in der Lage, Botenstoffe an den richtigen Ort im Gehirn zu transportieren“, so Eberhard Bodenschatz, Leiter der Abteilung Hydrodynamik, Strukturbildung und Biokomplexität am MPI für Dynamik und Selbstorganisation. „Auch könnten die Ströme dazu beitragen, Substanzen lokal zu begrenzen, indem die gegeneinander verlaufenden Flüssigkeitsstraßen wie Barrieren wirken.“ ergänzt Christian Westendorf, Zweitautor der Studie.

Wechselnde Strömungsrichtungen

Doch anders als das Straßennetz, in dem wir uns tagtäglich mit dem Auto oder Fahrrad bewegen, sind diese Flüssigkeitsstraßen keinesfalls starr. Zur Überraschung der Forscher wechselten die Härchen in einem zeitlichen Rhythmus ihre Schlagrichtung. Nach vorherrschender Lehrmeinung gilt die Schlagrichtung der Flimmerhärchen jedoch als unveränderbar.

„Im Hirnwasser bei uns Menschen gibt es Hunderte, wenn nicht sogar Tausende physiologisch wirksamer Substanzen“, wie Eichele betont. „Das von uns entdeckte Netzwerk von Strömen spielt vermutlich eine wichtige Rolle, um diese Stoffe zu verteilen. In weiteren Versuchen möchten wir aufklären, welche Botenstoffe über die Ströme transportiert und wo diese schließlich im Gewebe deponiert werden.“ „Auch ist das Verständnis von der Physik der Strömungsdynamik der Flimmerhärchen selbst ein Forschungsziel“, ergänzt Bodenschatz. (cr)

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