Otto-Hahn-Medaille für Göttinger Forscher
Die häufigsten Todesursachen in Deutschland sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Tod tritt dabei oft aufgrund von Kammerflimmern ein: Das bedeutet, dass das Herz nicht mehr rhythmisch pumpt, sondern sehr schnell und unkoordiniert zuckt – so kann es den Körper nicht mehr mit Blut versorgen. Bisher gibt es nur eine Chance, das Kammerflimmern zu überleben: Die sofortige Defibrillation. Ein kurzer, starker Stromschlag beendet das Flimmern und gibt dem Herzen so die Möglichkeit, wieder in seinen gewohnten Rhythmus zurückzufinden.
Es gibt externe Defibrillatoren, die Ersthelfer und Ärzte im Notfall einsetzen können und implantierte Geräte für besonders gefährdete Patienten. Die implantierten Geräte stellen anhand eines Sensors fest, wenn das Herz eines Patienten zu flimmern beginnt, und leiten dann automatisch die Defibrillation ein. In diesem Fall kann es passieren, dass Patienten den Stromschlag bei vollem Bewusstsein erleben. Das ist ein äußerst schmerzhaftes Erlebnis – schließlich jagen bis zu 400 Volt und 20 Ampere durch den Körper. Eine schonendere Methode zur Beendigung von Kammerflimmern könnte die Lebensqualität dieser Patienten entscheidend verbessern und auch mögliche Schädigungen des Herzens durch die starken Stromschläge verhindern.
In seiner interdisziplinären Doktorarbeit hat sich Dr. Philip Bittihn gefragt, welche Rolle der anatomische und physiologische Aufbau des Herzmuskels für das Kammerflimmern selbst und für seine Beendigung mittels elektrischer Felder spielt. Die Untersuchungen dazu fanden von 2009 bis 2013 in der Forschungsgruppe von Stefan Luther am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation statt, im Rahmen der International Max Planck Research School Physics of Biological and Complex Systems. Die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung bilden die Basis für einen gemeinsam mit Dr. Bittihn entwickelten Ansatz zur schonenden und möglicherweise schmerzfreien Beendigung von lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen. Die neue Methode könnte schon in den nächsten Jahren den Weg in klinische Tests finden. Für seine hervorragende Forschungsarbeit erhielt Dr. Bittihn am 4. Juni 2014 die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft, die einmal pro Jahr an junge Wissenschaftler verliehen wird und die mit 5000 € dotiert ist. In den nächsten Jahren wird Bittihn im Rahmen des Human Frontier Science Program an der University of California in San Diego weiter forschen.
Das Herz als komplexes System
In einem normal schlagenden Herzen ist das Zusammenspiel der Herzmuskelzellen genau aufeinander abgestimmt. Der interne „Taktgeber“ des Herzens, der sogenannte Sinusknoten, sendet in regelmäßigen Abständen elektrische Signale aus. Diese breiten sich in Wellen durch den gesamten Muskel aus, so dass die Muskelzellen rhythmisch aktiviert werden. So ziehen sich die Herzkammern im Takt zusammen, um Blut durch den Körper zu pumpen. Beim Kammerflimmern dagegen breiten sich die Wellen chaotisch aus und rotieren wirbelartig als sogenannte Spiralwellen. Da diese Aktivierungsmuster sehr komplex sind, ist es sehr schwierig, Kammerflimmern zu beenden. Bis heute wurde noch keine andere Methode gefunden, als das Herz durch einen starken Stromstoß neu zu starten und ihm damit zu einem geordneten Rhythmus zu verhelfen.
Dazu kommt, dass der Herzmuskel selbst durch seinen Aufbau und seine physiologischen Eigenschaften eine komplexe, unregelmäßige Struktur aufweist. Die theoretischen und experimentellen Untersuchungen, die Bittihn im Rahmen seiner Doktorarbeit in Kooperation mit Forschern an der Cornell University (US-Bundesstaat New York) und am RIKEN Center for Developmental Biology (Kobe, Japan) durchführte, zeigen nun, dass diese Unregelmäßigkeiten Fluch und Segen zugleich sind.
Mithilfe von Methoden aus der Physik komplexer Systeme konnte er einerseits zeigen, dass solche Heterogenitäten für die Entstehung von Herzrhythmusstörungen verantwortlich sein und ihren Schweregrad entscheidend beeinflussen können. Andererseits bestimmen sie aber auch, wie äußere elektrische Felder auf den Herzmuskel wirken.
Mit Hochgeschwindigkeitskameras beobachteten die Forscher, wie sich nach einem Stromstroß Wellen auf der Herzoberfläche ausbreiten. Dabei stellte sich heraus, dass auch vergleichsweise schwache Felder den Herzmuskel aktivieren können. Bittihn entwickelte ein theoretisches Modell, das diesen Effekt vorhersagen konnte. Es zeigt auch, dass von bestimmten durch die Anatomie des Herzmuskels vorgegebenen Orten Wellen ausgehen.
Sanft zurück in den Takt
Aufgrund dieser Erkenntnisse entwickelten die Forscher eine Methode, um Kammerflimmern auf sanfte Weise zu beenden. Mithilfe schwacher gepulster elektrischer Felder konnten die Wissenschaftler Herzrhythmusstörungen im Experiment mit 80-90% weniger Energie beenden, als für die herkömmliche Defibrillation erforderlich ist. Im Gegensatz zum konventionellen, hochenergetischen Defibrillationsschock, welcher die gesamte Aktivität des Herzens beendet, verwendet das als Low-Energy-Anti-Fibrillation Pacing (LEAP) bezeichnete neue Verfahren eine Folge sehr schwacher Pulse. Das Wirkprinzip von LEAP beruht wesentlich auf der von Dr. Bittihn erforschten Wechselwirkung von elektrischen Feldern mit der komplexen Anatomie des Herzens. Dabei wird die ambivalente Bedeutung der heterogenen anatomischen Struktur des Herzens deutlich: „Während einerseits natürliche und krankheitsbedingt veränderte Strukturen des Herzmuskels oft selbst ursächlich für Herzflimmern sind, können die Heterogenitäten mit Hilfe schwacher elektrischer Felder gezielt zur raum-zeitlichen Kontrolle des Herzflimmerns eingesetzt werden“, erläutert Dr. Bittihn das zentrale Ergebnis seiner Doktorarbeit. „Diese Ergebnisse eröffnen erstmals die Perspektive einer schonenden und schmerzfreien Beendigung von Herzrhythmusstörungen“, sagt Stefan Luther, Leiter der Forschungsgruppe Biomedizinische Physik.
In den nächsten Jahren wollen die Forscher die ersten klinischen Tests durchführen. Ziel ist es, die Voraussetzungen für eine Unternehmensgründung zu schaffen, um den Niedrig-Energie-Defibrillator langfristig auf den Markt zu bringen.
Stefan Luthers Forschungsgruppe wird seit Ende 2012 von der Gründungsoffensive Biotechnologie, einer Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, mit zwei Millionen Euro gefördert. Darüber hinaus hat Herr Dr. Bittihn ein Fellowship im Rahmen des Human Frontier Science Program (http://www.hfsp.org) erhalten.