Neuronen: Total bilingual

Nervenzellen im Gehirn sprechen zwei „Sprachen“. Eine neue Simulationssoftware berücksichtigt erstmals beide Kommunikationswege.

27. Mai 2013

Das Gehirn ist ein „dicht bevölkerter“ Ort: In einem Kubikmillimeter tummeln sich etwa 100 000 Nervenzellen; der Abstand zur Nachbarzelle beträgt weniger als einen Mikrometer. Dennoch gehen die meisten herkömmlichen Modelle davon aus, dass ein Neuron nur mit den Zellen Informationen austauscht, mit denen es über seinen langen Fortsatz verbunden ist. Selbst manche direkt angrenzende Zellen blendet diese Art der Beschreibung aus. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS), vom Bernstein Focus Neurotechnology in Göttingen und von der Universitätsmedizin Göttingen verfolgen einen anderen Ansatz. Denn mit Hilfe der elektrischen Felder, die ein Neuron in seiner unmittelbaren Umgebung erzeugt, kann es auch mit einer größeren Gruppe von Nachbarn kommunizieren. Die Forscher haben nun erstmals ein leistungsfähiges Software-Paket entwickelt, das diese realistische Situation simuliert, und stellen sie der Wissenschaftsgemeinde als Open Source-Code zur Verfügung.

Sowohl die USA als auch die Europäische Union fördern in den nächsten Jahren die Hirnforschung mit gewaltigen Summen: Während die USA möglicherweise mehrere Milliarden Dollar für das so genannte Human Brain Activity Project zur Verfügung stellt, unterstützt die Europäische Kommission das Human Brain Project unter Leitung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, das insgesamt etwa eine Milliarde Euro kosten wird. Ziel des ambitionierten Projektes ist es, die Funktionsweise des gesamten Gehirns in Computersimulationen abzubilden. „Damit Projekte wie diese erfolgreich sein können, ist es aus unserer Sicht nötig, das ,Gespräch‘ zwischen den Neuronen in seiner Gesamtheit zu erfassen“, sagt Dr. Andreas Neef vom MPIDS. Der Neurophysiker leitet seit Februar dieses Jahres am Bernsteinzentrum for Computational Neuroscience in Göttingen die Arbeitsgruppe „Neuronal Computation“. „Dabei spielen auch die elektrischen Felder eine Rolle, die jedes aktive Neuron außerhalb der eigenen Zellmembran erzeugt“, ergänzt er. Mit seinem Team hat Neef nun eine wichtige Grundlage geschaffen, um die gesamte neuronale Kommunikation numerisch handhabbar zu machen.

„Neuronen verfügen über einen gerichteten und einen ungerichteten Kommunikationsweg“, erklärt Dr. Andres Agudelo-Toro vom MPIDS den Grundgedanken. „Es ist, als sprächen sie zwei Sprachen“, ergänzt er. Gezielt leiten sie elektrische Signale, welche sie von ihren Nachbarn empfangen, entlang ihres langen Fortsatzes an andere Zellen weiter. Dabei können die Gesprächspartner viele Zentimeter entfernt, auf der anderen Seite des Gehirns liegen. Bei jedem Signal, das die Zellen auf diese Weise übermitteln, entstehen zudem schwache elektrische Felder in ihrer unmittelbaren Umgebung. Diese ermöglichen eine zweite Art der Kommunikation. Denn die Felder wirken auf die Zellen zurück und können so ihr Verhalten beeinflussen. Gruppen von Nervenzellen etwa gelingt es auf diese Weise, sich zu synchronisieren und ihre Signale zum selben Zeitpunkt weiterzuleiten. Dennoch vernachlässigen herkömmliche Modelle diesen zweiten Kommunikationsweg in der Regel.

Den Göttinger Forschern ist es nun gelungen, diese Lücke zu schließen. Ihre umfangreiche Simulationssoftware berücksichtigt im Detail auch die direkte Umgebung der Neuronen – mit allen elektrischen Feldern, Blutgefäßen und Nachbarzellen. „Als wir begannen, die Wechselwirkung von Neuronen in Simulationen zu untersuchen, mussten wir feststellen, dass es dafür keine geeigneten Simulationswerkzeuge gibt. Das liegt auch daran, dass bereits die Simulation einfacher Probleme mehrere Wochen dauern kann“, so Agudelo-Toro. Erst durch besonders effektive mathematische Verfahren und das Verteilen der Rechenarbeit auf mehrere Prozessoren ist es gelungen, auch realistische Szenarien innerhalb von Stunden zu berechnen. „Auf diese Weise entstand ein Simulationswerkzeug, mit dem sich die unterschiedlichsten Vorgänge und Situationen im Gehirn realistisch modellieren lassen“, so Neef.

Zusammen mit der Arbeitsgruppe von Dr. Andreas Neef nutzen auch Forscher vom Deutschen Primatenzentrum und von der Universitätsmedizin Göttingen die neue Software. Diese ist auch für medizinische Anwendungen von großem Wert, etwa wenn zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken Elektroden direkt ins Gehirn einzelner Patienten eingepflanzt werden. Ziel dabei ist es, die Aktivität einzelner Nervenzellen zu bestimmen und zu steuern. (Zum Vergleich: Beim klassischeren EEG etwa, bei dem Elektroden von außen am Kopf des Patienten angebracht sind, spiegeln die Signale bestenfalls die Aktivität großer Verbände von Nervenzellen wider.) Doch auch hier beeinflussen die Felder der umliegenden Neuronen das Signal. „Die gemessenen Daten kann man nur dann richtig verstehen und interpretieren, wenn man auch diesen Einfluss berücksichtigt“, so Neef.

Die Göttinger Wissenschaftler haben ihr „Werkzeug“, das den Namen CHASTE-Membrane trägt, als Open Source Software entwickelt und stellen es unter http://www.cs.ox.ac.uk/chaste/download.html allen Kollegen zur Verfügung. Es ist eine Erweiterung des Projektes CHASTE (Cancer, Heart, and Soft Tissue Environment), das an der Computerwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Oxford beheimatet ist.


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