Ein Leben für die Physik und die Musik

Theo Geisel, Direktor des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation und Gründer des Bernstein Zentrums Göttingen als Emeritus mit einem Symposium von ehemaligen Schülerinnen und Schülern gefeiert

31. Oktober 2016

„Ich gebe nur den Anlass“, sagte Theo Geisel. „Wir sollten die bemerkenswerten Errungenschaften der Abteilung für Nichtlineare Dynamik feiern.“ Zahlreiche ehemalige Mitarbeiter waren von weit her angereist, teilweise aus den USA, Mexiko und Frankreich. Professor Geisel, Direktor des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation und Professor für Theoretische Physik an der Universität Göttingen wurde nach 20 Jahren Tätigkeit in Göttingen emeritiert. Bereits in den achtziger Jahren entwickelte sich Geisel zu einem Pionier der Nichtlinearen Dynamik, im allgemeinen Sprachgebrauch auch Chaostheorie genannt, als diese sich noch im Aufbruch befand. „Wäre ich davon nicht so fasziniert gewesen, hätte ich vielleicht die Physik aufgegeben und wäre Musiker geworden“. Musik ist noch heute eine große Leidenschaft des theoretischen Physikers. Der weit größere Teil seiner kreativen Leistungen aber geht in die Wissenschaft. Im Jahre 1994 wurde er mit dem bedeutendsten deutschen Forschungspreis, dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis ausgezeichnet, seit 2008 ist er Fellow der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft (APS), im Jahr 2009 erhielt er den Gentner-Kastler-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und der Société Francaise de Physique. Seit 2013 ist Theo Geisel Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Da die Nichtlineare Dynamik sehr vielseitig anwendbar ist, hat sich Theo Geisel im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere den verschiedensten wissenschaftlichen Fragestellungen gewidmet, beispielsweise der Funktion biologischer neuronaler Netze, der Ausbreitung von Seuchen oder der Fokussierung von Tsunamis. Dieses breite Spektrum fand sich in den Vorträgen des Symposiums wieder. Auch die Musik begleitet Geisels Leben nach wie vor, wissenschaftliche Symposien oder Feiern des Instituts bereichert er, Saxophon spielend, gemeinsam mit seiner Institutsband. Zukünftig wird sich Theo Geisel mit einer Emeritusgruppe zur Nichtlinearen Dynamik weiterhin aktuellen Forschungsthemen am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation widmen.

Pionier der Chaostheorie

Die Chaostheorie ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden. "Chaotisch“ nennt man dynamische Systeme, wenn winzige Unterschiede in den Anfangsbedingungen nach einiger Zeit zu großen Abweichungen führen können - der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterlings könnte theoretisch das Wetter beeinflussen. In den frühen 80ern führte Geisel bei der Untersuchung chaotischer Systeme als erster ein mathematisches Modell für so genannte „Lévy Random Walks“ ein, eine besondere Form von Zufallsbewegungen. Mit dieser Arbeit gab er den Startschuss für eine Forschungsrichtung, die „Lévy Random Walks“ in viele verschiedene Disziplinen der Physik, Biologie, Klimaforschung und der Finanzmathematik eingebracht hat. In der eigenen Arbeitsgruppe wendeten Geisel und seine Mitarbeiter diese Methoden beispielsweise bei Halbleiter-Nanostrukturen an. Besondere Früchte trug die Arbeit auch im Jahre 2006, als es Geisel zusammen mit Dirk Brockmann und Lars Hufnagel gelang, das Reiseverhalten der Menschen zu analysieren und durch Lévy-Prozesse zu beschreiben. Gerade im Zeitalter von Vogel- und Schweinegrippe haben sie damit einen wichtigen Beitrag geleistet, um die Ausbreitung von Epidemien mathematisch zu modellieren und vorherzusagen.

Beginn der Computergestützten Neurowissenschaften

Als Theo Geisel 1989 Professor für Theoretische Physik in Frankfurt wurde, hatte er bereits begonnen, Methoden der nichtlinearen Dynamik anzuwenden, um auch neuronale Prozesse besser zu verstehen. „Durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für Hirnforschung hatten wir Zugang zu experimentellen Daten, die sehr detailliert mit gerade neu entwickelten Techniken gewonnen wurden“, sagt Geisel. Zwei verschiedene Schwerpunkte entstanden damals in Geisels Arbeitsgruppe, die man nach heutigem Sprachgebrauch der computergestützten Neurowissenschaften (Computational Neuroscience) zuordnen würde. Zum einen widmete er sich der Entwicklung der Sehrinde, dem Teil der Großhirnrinde, der visuelle Eindrücke verarbeitet. Wie vieles in der Biologie entwickelt sich auch diese hochkomplexe Struktur unter dem Einfluss von Selbstorganisation, aus sich selbst heraus. Zellen mit unterschiedlichen Aufgaben sind in der Sehrinde nicht zufällig verteilt, sondern in einem Muster mit gewissen Regelmäßigkeiten, „neuronale Karten“ genannt. Neuronale Karten wurden in den 90er Jahren mit neuen experimentellen Methoden („optical imaging“) intensiv untersucht. Geisel und sein heutiger Kollege Fred Wolf sowie seine ehemaligen Mitarbeiter Klaus Pawelzik und Hans-Ulrich Bauer klärten die Entstehung und Form dieser Karten mit theoretischen Modellen auf.

Wiege des Göttinger Bernstein Centers

Diese Arbeiten gelten als Wiege des Bernstein Centers for Computational Neuroscience, welches Theo Geisel 2004 in Göttingen gründete. Im Bernstein Zentrum gehen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen seit über 10 Jahren der Frage nach, wie das Gehirn funktioniert. Computational Neuroscience - zu Deutsch computergestützte Neurowissenschaften - ist ein junges Forschungsgebiet, das durch mathematische und theoretische Methoden im Zusammenspiel mit Experimenten die Funktion des Gehirns zu entschlüsseln versucht. Im Göttinger Bernstein Zentrum, das international eine Führungsrolle einnimmt, kooperieren die Göttinger Max-Planck-Institute für Dynamik und Selbstorganisation, experimentelle Medizin und für biophysikalische Chemie, die Fakultäten Physik, Biologie, Medizin und Mathematik der Universität Göttingen, das Deutsche Primatenzentrum sowie das Medizintechnikunternehmen Otto Bock HealthCare GmbH.

30 Millionen Euro für Göttingen eingeworben

Das Bernstein Zentrum Göttingen ist Teil des bundesweiten Bernstein Netzwerks Computational Neuroscience. Es wurde 2004 vom BMBF ins Leben gerufen und umfasst mittlerweile über 200 Arbeitsgruppen. Ziel der Förderinitiative war, die neue Forschungsdisziplin in Deutschland nachhaltig zu etablieren. Inzwischen hat sich das Netzwerk zum größten Forschungsnetz im Bereich der computergestützten Neurowissenschaften mit weltweiter Vorbildfunktion entwickelt. Bisher sind 180 Millionen Euro Bundes- und Ländermittel in das bundesweite Netzwerk geflossen. Der  Standort Göttingen hat mehr als 30 Millionen davon akquirieren können und bildet eine exzellente Nachwuchsschmiede. Drei Mal kam der Träger des seit 2006 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) vergebenen Bernstein Preises aus Geisels Abteilung für Nichtlineare Dynamik am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Mit 1,25 Millionen Euro ist der Bernstein Preis einer der höchstdotierten Nachwuchsförderpreise weltweit. 

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