Frage:

Ist „Urreligion“ ein sinnvoller Begriff?

Antwort:

Die Frage nach der Urreligion war einer der Ausgangspunkte der Religionsforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals ging die Forschung davon aus, dass es Religionsformen gegeben hat, die die Grundlage für alle später entstandenen Religionen gewesen seien. In der heutigen Religionswissenschaft kommt diesem Ansatz keine zentrale Rolle mehr zu. Dies hat historische Gründe: Viele Theorien vom Ursprung der Religion zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren von einem einseitigen Fortschrittsglauben geprägt, der in dem rationalen und zivilisierten Europäer den Höhepunkt der Entwicklung erblickte. Die Vermutung entwicklungsgeschichtlich argumentierender Religionsforscher, auch die Religion habe sich von einfachen Formen des Bären- und Jagdkultes der Steinzeit über die Magie zum Glauben an mehrere Götter und schließlich zum Eingottglauben des Alten und Neuen Testaments kontinuierlich fortentwickelt, um schließlich in der Ablösung der Religion durch die Wissenschaft zu münden, die keinerlei irrationaler Annahmen und Wunder mehr bedürfe, erhielt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen Dämpfer.

Der Zukunftsoptimismus, der von einer immer weitergehenden, auch moralischen Höherentwicklung ausging, wich einem Nachdenken über Religion, das nicht mehr die Entwicklung aus den Ursprüngen in den Vordergrund stellte, sondern nach ihrem „Wesen“ fragte. Die Unterschiede, die Religionswissenschaftler nun beschäftigten, wurden nicht mehr am Entwicklungsstand der jeweiligen Religion festgemacht, sondern eher in unterschiedlichen Zugangsweisen der Menschen zur Religion gesehen. Fragen, ob es eine besondere christliche, hinduistische oder islamische Frömmigkeit gibt, gehören hierher. Andere Forscher beschäftigten sich mit der Rolle und den Aufgaben der Religion in unterschiedlichen Gesellschaften und untersuchten dies mit soziologischen Methoden. Außerdem stellten die Forscher bei der Untersuchung vermeintlich einfacher und primitiver Gesellschaften fest, dass deren Religionen oft über vielfältige Ausdrucksformen verfügten und eben nicht am Anfang einer Entwicklung standen, sondern schon weit entwickelt waren, wie etwa die Religion der australischen Aborigines. Ebenso war ein hohes Alter der Religion keinesfalls ein geeigneter Gradmesser für ihre Urtümlichkeit. So ist eine der ältesten heutigen Religionen, der Zoroastrismus, hoch komplex.

In diesen Forschungsansätzen trat daher die Frage nach dem Ursprung der Religion immer weiter in den Hintergrund. Viele der Theorien, die sich um den Ursprung rankten, sind nicht belegbar, eben weil es für die Frühphase der religiösen Entwicklung wenig gesicherte Nachweise gibt. Zudem zeigte sich, dass die Deutung der vorzeitlichen Funde – etwa zu dem oben erwähnten Bärenkult der Steinzeit – stark vom jeweiligen Zeitgeist geprägt war. Hielten frühere Forscher die gefundenen Höhlenbärenschädel für einen ersten Ausdruck religiösen Empfindens und brachten sie mit rituellen Handlungen in Verbindung, geht man heute von rein zufälligen Knochen- und Schädelansammlungen aus, die ohne menschliches Zutun entstanden.

So wendet die Religionswissenschaft ihr Hauptaugenmerk nicht auf den Ursprung, sondern untersucht und vergleicht historische Entwicklungen von Religionen oder widmet sich der Analyse heutiger Glaubensformen. Nicht zuletzt stehen die aktuellen Konflikte im Brennpunkt der Forschung, da diese oft religiös begründet werden. Hierbei spielen die modernen Medien, wie das Internet, eine entscheidende Rolle, denn es sind nicht mehr nur die vertrauten religiösen Einrichtungen wie Kirche oder Moschee, die für die Verbreitung religiöser Ideen genutzt werden. Diese Forschungsrichtung ist ein Standbein der Göttinger Religionswissenschaft.

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