Frage:

Kann ein hoher Ton Glas zum Bersten bringen?

Antwort:

Warum sollte die atemberaubende Stimme einer Sopranistin ein Weinglas in Stücke springen lassen? Um dies zu verstehen, werden wir tief in die physikalische Welt der Schwingungen, des Schalls und der Resonanz eintauchen. Wie viele andere Gegenstände in unserer Umgebung kann auch ein Weinglas schwingen. Solche Schwingungen erzeugt man auch, wenn man eine Schaukel anstößt, eine Gitarrensaite anzupft, in einem Wackelpudding stochert oder eine Straßenlaterne boxt. Auch ein so großes Objekt wie ein Wolkenkratzer schwingt im Wind. All diese Gegenstände schwingen, d.h. sie bewegen sich - wie ein Pendel - wiederholt vor und zurück. Dabei hat jeder Gegenstand seine spezifische Eigenfrequenz.

Tippt man nun ein Weinglas an, geschieht im Prinzip dasselbe – allerdings sind hierbei zwei Eigenschaften besonders wichtig: Zum einen verformt sich das Weinglas auf eine spezielle Art und Weise, zum anderen schwingt es sehr schnell, etwa 600 Mal in einer Sekunde. Dies kann man nur mit Hilfe eines Stroboskops oder einer Hochgeschwindigkeitskamera beobachten.

Doch was hat eine Sopranstimme mit alldem zu tun? Ein Ton ist eine Schwingung des Luftdrucks. Der Ton breitet sich als Welle im Raum aus. Mikroskopisch gesehen ist es die Dichte der Luftmoleküle, die sich periodisch durch eine Abfolge von Stauchungen und Dehnungen verändert. Ein schwingendes Weinglas erzeugt Töne, indem es die Luft zum Mitschwingen anregt. Die Frequenz dieses Tons entspricht der obengenannten spezifischen Eigenfrequenz des Weinglases. Umgekehrt funktioniert das Prinzip auch: Die Schallwelle eines Tones überträgt ihre Schwingungsenergie dabei auf ihre Umgebung. Um dies zu spüren, muss man nur einmal einen aufgeblasenen Luftballon in die Nähe eines Lautsprechers halten.

Wenden wir nun dieses Prinzip auf das Weinglas an und betrachten es in Zeitlupe: Der Ton aus dem Lautsprecher oder aus dem Mund der Sängerin erzeugt schnelle regelmäßige Änderungen des Luftdrucks in der Nähe der äußeren Glasoberfläche und erzwingt dadurch periodische Schwingungen der Glaswände. Trifft der Ton genau die Eigenfrequenz des Glases, so geschieht das Gleiche wie bei einer Schaukel, die wir jedes Mal anschieben, wenn sie uns erreicht: die Auslenkungen werden stärker und stärker. Dieses physikalische Phänomen nennt man Resonanz.

Wenn man nun die Lautstärke des Tons erhöht, erreicht das Glas irgendwann die maximale Verformung, die es aushalten kann, und es zerspringt. Je nach Glassorte können die Wände bis zu einem Zentimeter vor- und zurückschwingen, bevor sie schließlich brechen. Das Glas bricht im übrigen leichter, wenn es einen Fehler, einen winzigen Riss oder eine Schwachstelle enthält. Die notwendige Lautstärke beträgt in etwa 100 Dezibel. Solche Lautstärken können darüber hinaus - bei längerer Einwirkung - Hörschäden verursachen.

Zusammenfassend kann man sagen: Die durchdringende Stimme einer Sopranistin bringt das Glas zum Singen und Schwingen, bis es schließlich bricht.

Das Experiment für zu Hause: Schnipsen Sie ein dünnwandiges Weinglas mit den Fingern leicht an und hören sie aufmerksam zu. Setzen Sie zum Schutz Ihrer Augen eine Brille auf, legen Sie einen Strohhalm in das Weinglas, halten Sie es dicht an ihren Mund und singen Sie so laut, wie Sie können. Vergessen Sie dabei nicht, denselben Ton zu singen, den das Glas erzeugt hat, und diesen eine Weile zu halten. Wenn Sie die richtige Frequenz treffen, wird der Strohhalm beginnen, im Glas umher zu hüpfen und letztendlich wird das Glas zerbrechen. Kosten: Ein hübsches Weinglas und eventuell eine lädierte Stimme am nächsten Tag. Viel Glück – und bitte seien Sie vorsichtig!

Zur Redakteursansicht