Frage:

Warum erinnern wir uns nicht an die ersten Lebensjahre?

Antwort:

Warum wir uns an unsere ersten Lebensjahre nicht erinnern können, ist bisher noch nicht vollständig verstanden. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von „infantiler Amnesie”. Dennoch wird sich die Wissenschaftsgemeinde derzeit zunehmend darüber einig, dass eine bestimmte Hirnregion für diese Frage besonders wichtig ist: die so genannten Frontallappen.

Dieser Teil des Gehirns befindet sich direkt hinter der Stirn. Übertragen auf das Verarbeiten von Informationen übernimmt er ähnliche Aufgaben wie die Mitarbeiter einer Bücherei: Sie geben Bücher heraus und nehmen sie zurück, sie katalogisieren neu erworbene Bücher und entscheiden, wo diese unterzubringen sind. Zudem helfen die Mitarbeiter Besuchern der Bibliothek dabei, spezielle Bücher zu finden. Trotz dieses anschaulichen Vergleichs ist das Verständnis von der Funktion der Frontallappen noch recht unspezifisch. Ein Eindruck vermittelt der Eintrag aus der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, der die Aufgaben dieser Hrinregion beschreibt. Die Frontallappen spielen demnach eine Rolle bei der Impulskontrolle, beim Urteilsvermögen, Spracherwerb, Problemlösung, Sexualverhalten, Sozialisation und Spontanität. Dies sind offensichtlich entscheidende, wenn auch etwas vage Aufgaben des Gehirns. Man kann sich deshalb leicht vorstellen, dass Kinder – bis ihre Frontallappen voll entwickelt sind – noch nicht sehr viel können. Das Abspeichern von Erinnerungen eingeschlossen.

Es gibt zahlreiche Erklärungen für die infantile Amnesie, die an verschiedenen Stellen des Erinnerungsprozesses ansetzen. Eine Erklärung könnte sein, dass bei Kindern ein wichtiger Teil des Gehirns, der so genannte Hippocampus, noch unreif ist. Der Hippocampus spielt eine entscheidende Rolle beim Abrufen von Erinnerungen. Eine andere Erklärung: Hirnregionen, die Erinnerungen kurzfristig speichern, sind im Kindesalter noch nicht mit dem Langzeitgedächtnis verbunden. Einige Wissenschaftler argumentieren anders. Sie glauben, dass frühe Kindheitserinnerungen nicht viele kontextabhängige Details enthalten, die uns später im Leben helfen, Erinnerungen zu bilden. Gemeint sind also die „Haken”, die unsere Erinnerungen an bestimmte Regionen des Gehirns heften. So können wir uns als Erwachsene etwa an ein bestimmtes Gemälde erinnern, weil es einem guten Freund gehörte, es eine unserer Lieblingsstädte zeigte, unheimlich viel Geld kostete oder uns einmal auf den Kopf gefallen ist. Ein anderer Erklärungsversuch setzt auf die Rolle der Sprache. Demnach können wir Erinnerung, die geformt wurden, bevor wir sprechen konnten, nach dem Spracherwerb nicht wiederfinden.

Madeline Eacott, eine führende Psychologin, formuliert es augenzwinkernd so: “Ich neige dazu, die gesamte Kindheit als ein Durcheinander in den Frontallappen zu verstehen.” Doch selbst diese Wissenschaftlerin kann nicht genau den Prozess im Gehirn nennen, der dem Erinnern zu Grunde liegt. Ich selbst denke, dass es nicht nur eine Erklärung für die infantile Amnesie gibt. Entwickeln sich die Frontallappen während des Heranwachsens, so erlaubt dies kognitive Prozesse, die vorher unmöglich waren. Man könnte also die Unreife der Frontallappen für die Amnesie verantwortlich machen. Oder man sagt, dass die Unfähigkeit, persönliche Erinnerungen zu kodieren, schuld sei. Beides könnte richtig sein. Es sind möglicherweise nur verschiedene Seiten derselben Medaille.

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